Suche nach dem großen Vorfahren

J. H. Mattemes
Ardis Skelett wurde aus mehr als 30 verschiedenen Individuen zusammengesetzt. Der Hauptanteil stammt von einem weiblichen Exemplar. Ardis Eckdaten: Sie war 1,20 Meter groß, 50 Kilogramm schwer und hatte ein Hirnvolumen von etwa einem drittel Liter - vergleichbar mit jenem des Zwergschimpansen. Das Bild oben zeigt, wie Ardi ausgesehen haben könnte.
"The Last Common Ancestor" (LCA), der letzte gemeinsame Vorfahr von Mensch und Schimpanse, ist ein Wesen, das Biologen im Traum erscheint. Er würde zweifelsfrei zeigen, wie der Ursprung jenes Stammbaums beschaffen war, der die Linie zu uns und unseren nächsten Verwandten hervorgebracht hat. Und er würde wohl auch zeigen, was denn das Besondere an dieser Spezies namens Homo sapiens ist, die sich so sehr für ihre eigene Urgeschichte interessiert.
Doch bisher wurde der LCA nicht gefunden, er ist der große Unbekannte der Paläontologie. Oder vielleicht sollte man besser sagen: die große Unbekannte, denn die bedeutendsten Knochenfunde in dieser Ahnenreihe der Vormenschen stammen bisher von weiblichen Exemplaren. Da ist zum einen Lucy, sie wird der Art Australopithecus afarensis zugerechnet und gilt als direkter Vorfahre unserer Gattung Homo.
Da ist zum anderen ein Skelett namens Ardi als Kurzform für Ardipithecus ramidus. Ardi ist 4,4 Millionen Jahre alt und wurde wie Lucy in der Afar-Region im Nordwesten Äthiopiens entdeckt. Sie lebte zwar 1,6 Millionen Jahre nach dem "Last Common Ancestor" - unter den annähernd kompletten Skeletten fossiler Vormenschen ist jenes von Ardi jedoch das älteste. Daher kann sie am besten Auskunft geben, wie der große Vorfahr LCA einst ausgesehen haben mag.
17 Jahre Analysen
Die Auskunft ließ lange auf sich warten. Mitte der 90er Jahre wurden Ardis Knochen entdeckt, die erste umfassende Analyse des Skeletts ist erst jetzt erschienen, 17 Jahre nach den ersten Funden. In der aktuellen Ausgabe des Fachblatts "Science" finden sich elf Studien von 47 Wissenschaftlern, die sich Ardis Körperbau, ihrer mutmaßlichen Bewegungsweise und nicht zuletzt auch ihren ökologischen Lebensbedingungen in Nordostafrika widmen.
Aus für das Schimpansenmodell

Science/AAAS
Am 17. Dezember 1992 entdeckte Gen Suwa, damals ein Student Tim Whites, einen Zahn, später einen Unterkiefer. Zunächst wurde der Fund einer neuen Art namens Australopithecus ramidus zugeordnet. Erst später wurde der aktuelle Name Ardipithecus ramidus eingeführt (nach den Wörtern für "Boden" und "Wurzel" in der Sprache der Afar, einem an der Fundstelle ansässigen Nomadenvolk).
Im November 1994 ging es dann Schlag auf Schlag. Es folgten Hüfte, Bein, Knöchel, Fuß-, Arm- und Handknochen, ein Kiefer mit Zähnen - sowie ein Schädel. Im Jänner 1995 war dann klar: Die 110 Einzelteile ergeben ein höchst seltenes und außergewöhnlich komplettes Skelett. White und seine Kollegen gruben in der gleichen Region insgesamt 150.000 Tier- und Pflanzenfossilien aus. Durch sie konnten Ardis Lebensbedingungen rekonstruiert werden.
Sukkus dieses paläoanthropologischen Konvoluts ist die Einsicht, dass der Schimpanse als Modell für den LCA endgültig ausgedient hat. Des Schimpansen und Menschen letzter gemeinsamer Vorfahr, so dachte man früher, bewegte sich auf dem Boden im Knöchelgang (also mit aufgestützten Armen) und hangelte sich in den Bäumen von Ast zu Ast. Die Proportionen von Ardi sprechen indes klar gegen dieses Bild: Sie dürfte bereits auf zwei Beinen gegangen sein, wie ihre Fußknochen zeigen. Auch in den Bäumen war sie keineswegs nach Schimpansenmanier unterwegs, sondern auf allen Vieren entlang großer Äste - Schritt für Schritt, nicht hangelnd.
"Ardipithecus war eine unspezialisierte Art, die sich nicht sehr weit in Richtung Australopithecus entwickelt hat", sagte Tim White von der University of California in Berkeley, dessen Team die Knochen von Ardi entdeckt und ausgegraben hat. "Wenn man sich das Skelett vom Scheitel bis zur Sohle ansieht, dann hat man ein Mosaikwesen vor sich, das weder Schimpanse noch Mensch war." Obwohl bereits zu Boden zweibeinig unterwegs, konnte Ardi beispielsweise noch immer die große Zehe abspreizen. Erst ihre Nachfahren büßten diese Fähigkeit ein.
Wald statt Savanne
Die Savanne, einst das ökologische Sinnbild für die Wiege der Menschheit, wird den Studien zufolge nun einer späteren Evolutionsphase zugerechnet, nämlich der 3,2 Millionen Jahre alten Lucy und ihren Nachfahren.
Ardi hingegen dürfte in locker bewaldetem Gebiet gelebt haben. Andere Fossilien zeigen, dass es dort auch Feigen und Zürgelbäume, Papageien und Landschnecken, Hyänen, Bären, Schweine sowie Giraffen, Elefanten und Affen gegeben hat. Dementsprechend abwechslungsreich gestaltete sich der Speiseplan von Ardi, sie war vermutlich ein Allesfresser - wie wir.
Die Form der Schnauze und die flachen Reißzähne deuten überdies auf eine friedliche, kaum aggressive Lebensweise hin, was das Gesamtbild unserer Ahnen durchaus korrigiert. Offenbar waren sie keineswegs so affenartig wie die heutigen Schimpansen, Bonobos und Gorillas, die sich biologisch viel weiter von unserem letzten gemeinsamen Vorfahren entfernt haben als bisher vermutet.
"Licht wird fallen ..."
Man kann den Fund in der Afar-Region auch als Postskriptum zu einem Brief lesen, den Charles Darwin 1857 an Alfred Russel Wallace schrieb: "Sie fragen mich, ob ich auch über den Ursprung des Menschen diskutieren soll. Ich denke, man sollte dieses Thema vermeiden, weil es von so vielen Vorurteilen umgeben ist. Obwohl ich natürlich zugeben muss: Für einen Naturforscher ist es das höchste und interessanteste Problem."
In der zwei Jahre später erschienenen "Origin of Species" widmete Darwin dem Thema konsequenterweise nur einen Satz. Dieser sollte sich jedoch nachdrücklich bestätigen: "Licht wird fallen auf den Ursprung des Menschen und seine Geschichte."
Robert Czepel, science.ORF.at