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Hand in Hand: Politiker bei einem Treffen der Association of South East Asian Nations.

Das Wir als Antidepressivum

US-Forscherinnen behaupten: Unterschiedliche Gesellschaftsordnungen in Ost und West haben evolutionäre Ursachen. Sie betrachten das Kollektiv als biologischen Schutzwall - gegen Infektionen und Depressionen.

Psychologie 28.10.2009

Der Teil und das Ganze

Wenn Europäer und Asiaten einander nicht verstehen, muss das nicht nur mit Sprachbarrieren zu tun haben. Westlichen Industriestaaten sind individualistisch geprägt, in Asien, China und Japan beispielsweise, begreifen sich die Menschen stärker als Teil eines gesellschaftlichen Ganzen. Das mag ein Klischee sein, aber es ist eines mit dickem empirischem Unterfutter. Der niederländische Kulturwissenschaftler Geert Hofstede etwa hat versucht, gesellschaftliche Stile in Indizes zu gießen. Seine Arbeiten bestätigen: Im Osten regiert der Kollektivismus, im Westen der Individualismus.

Wer sich nicht durch Hofstedes soziokulturellen Datenwust arbeiten oder um die halbe Welt reisen möchte, sollte zumindest einen Abstecher nach Japan via Youtube (z.B. hier oder hierhin) versuchen: Gelassenheit in überfüllten U-Bahnhöfen sagt nämlich auch etwas über die gesellschaftlichen Verhältnisse aus.

Schutz vor Keimen?

Evolutionspsychologen deuten solche Unterschiede in der Regel nicht als Zufall, sondern als Notwendigkeit, als Anpassung im biologischen Sinn. Corey Fincher von der University of New Mexico hat letztes Jahr vorgeschlagen, dass der Kollektivismus historisch als Barriere gegen Infektionskrankheiten entstanden sein könnte. Ihr Argument: Wo Traditionen und Konformismus eine dominante Rolle spielen, ist man Fremdem (und Fremden) gegenüber skeptisch.

Diese reservierte Haltung schütze vor Kontakt mit neuartigen Keimen, schrieb Fincher in einer Studie und präsentierte ebenda Statistiken, die den Zusammenhang untermauern sollten. Eine durchaus brisante These, denn im Klartext hieße das nicht nur, dass Xenophobie die Kehrseite der Gruppenharmonie ist. Sondern auch, dass fremdenfeindliche Denkmuster biologische Wurzeln haben.

Ostwestliches Depressionsgefälle

Joan Y. Chiao und Katherine D. Blizinsky fügen der Keim-Kollektiv-Theorie nun eine neurobiologische Facette hinzu. Den beiden US-Psychologinnen von der Northwestern University ist aufgefallen, dass Angststörungen und Depressionen in Ostasien seltener sind als in Europa und den USA. Verantwortlich dafür ist ihrer Meinung nach der sogenannte Serotonin-Transporter - ein Molekül, das in der Membran von Nervenzellen sitzt und die Verarbeitung des Botenstoffes Serotonin im Gehirn reguliert. Die Vermutung ist nicht zu weit hergeholt, denn dass der Serotoninstoffwechsel bei der Entstehung von Depressionen eine wichtige Rolle spielt, gilt als gesichert.

Mutation im Botenstoff-Transporter

Chiao und Blizinsky fanden jedenfalls heraus, dass es auch bei dem Transporter-Gen ein geografisches Gefälle gibt. Das Gen liegt in einer kurzen und einer langen Varianten vor. Erstere tragen laut Studie 40 bis 45 Prozent der Europäer in ihrem Erbgut, bei den Ostasiaten sind es hingegen 70 bis 80 Prozent.

Warum? Die beiden Psychologinnen glauben, dass die Selektion die kurze Variante fördert bzw. gefördert hat, um ihre Träger vor Depressionen zu schützen. In Asien sei dieser Prozess eben weiter fortgeschritten als bei uns. Und sie bieten auch einen Konnex zu Finchers Theorie an, wenn auch einen sehr spekulativen: Das Transporter-Gen könnte nicht nur die Stimmungslage, sondern auch den Umgang mit sozialen Normen beeinflussen. Vielleicht, so vermuten sie, geht das japanische Wir-Gefühl auf eine unscheinbare Mutation zurück.

Robert Czepel, science.ORF.at

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