Forscher bezweifeln allerdings, dass es für derartige Entscheidungen ausreichend wissenschaftliche Grundlagen gibt.
Temporäre Unzurechnungsfähigkeit
Abdelmalek Bayout, ein algerischer Staatsbürger, der seit 1993 in Italien lebt, hatte am 10. März 2007 den Kolumbianer Walter Felipe Novoa Perez erstochen. Grund für die Gewalttat war laut dem Täter eine Beleidigung. Der Südamerikaner hatte sich über ein Augen-Make-up lustig gemacht, das Bayout aus religiösen Gründen trägt.
Im Prozess plädierte die Anwältin des Angeklagten, Tania Cattarossi, auf Unzurechnungsfähigkeit während des Mordes. Drei psychiatrische Gutachten wurden erstellt, die den Richter davon überzeugten, dass eine psychische Störung eine gewisse Strafmilderung rechtfertige. Das Strafmaß wurde auf neun Jahre und zwei Monate festgelegt, etwa drei Jahre weniger als bei völliger Zurechnungsfähigkeit.
Neurologisches Gutachten
Im Rahmen eines Berufungsverfahrens im Mai dieses Jahres holte der Richter ein neues Gutachten bei forensischen Wissenschaftlern ein, um abzuklären, ob eine weitere Reduzierung des Strafmaßes zulässig wäre.
Für den neuen Bericht führten Pietro Pietrini, ein Neurowissenschaftler an der Universität Pisa, und Giuseppe Sartori von der Universität Padua eine Reihe von Tests durch.
Die Gehirnbilder zeigten Auffälligkeiten, und bei einer genetischen Analyse fanden sie fünf Gene, die mit gewalttätigem Verhalten in Zusammenhang gebracht werden, unter anderem jenes Gen, das das Enzym Monoaminooxidase A (MAOA) herstellt.
Ein Gen, das aggressiv macht
Eine britische Studie hatte 2002 das erste Mal festgestellt, dass Heranwachsende mit einer wenig aktiven Variante des Gens später aggressiver und krimineller würden. Dabei waren die Probanden in ihrer Kindheit alle schlecht behandelt worden. Die Autoren konnten damit zeigen, dass es eine Wechselwirkung zwischen genetischer Veranlagung und sozialer Umgebung gibt.
Andere Folgestudien ergaben, dass die Genvariante wohl tatsächlich etwas mit impulsivem Verhalten zu tun hat (Beispiel einer Studie).
In ihrem gerichtlichen Gutachten kamen die italienischen Gehirnforscher jedenfalls zu dem Schluss, dass Bayout durch seine genetische Disposition anfälliger für Gewalt ist, wenn er provoziert wird. Überzeugt von den biologischen Argumenten, reduzierte der Richter des Berufungsverfahrens das Strafmaß um ein weiteres Jahr.
Schuldlos aggressiv?
Andere Forscher sehen diese Entscheidung eher skeptisch, da man weit davon entfernt sei, die Funktionen und die komplexen Wechselwirkungen mit der Umwelt des menschlichen Genoms zu verstehen.
Wie Terrie Moffit, Koautorin der Studie aus dem Jahr 2002, gegenüber "Nature" meint, ist etwa eines der Probleme, dass das MAOA-Gen zwischen verschiedenen Volksgruppen stark variiert. Eine Untersuchung aus dem Jahr 2006 habe nämlich ergeben, dass die "friedfertige" Genvariante lediglich bei Weißen messbare Effekte habe.
Auch sei die "aggressive" Disposition öfter bei Männern zu finden - ein Grund, sie jetzt alle milder zu bestrafen und weniger lang einzusperren?
Legitime Strafmilderung?
Die Autoren des Gutachtens rechtfertigen ihre Schlussfolgerung damit, dass sowohl die Gehirnbilder als auch andere Gene - nicht nur das MAOA encodierende - bei ihrer Untersuchung einbezogen worden seien. Und in den Augen der Anwältin ist es nur legitim, dass die mentale Gesundheit des Klienten in all ihren Dimensionen vor Gericht berücksichtigt wird.
"Die genetische Verhaltensforschung ist einfach nicht weit genug. Individuelles Verhalten lässt sich damit nicht erklären, lediglich statistische Zusammenhänge in größeren Bevölkerungsgruppen", meinte dazu Nita Farahany von der Vanderbilt-Universität von Nashville, eine Expertin für ethische und juristische Fragen in den Bereichen Genetik und Gehirnforschung.
Unfreiwillig böse?
Seit MAOA bekannt ist, haben schon zahlreiche Verteidiger versucht, ihren Klienten durch DNA-Tests Strafmilderung zu verschaffen. Farahany hat in ihrer persönlichen Datenbank in den letzten fünf Jahren allein in den USA bereits 200 ähnliche Fälle erfasst. Bisher seien die meisten Anträge aber erfolglos gewesen, wie die Juristin sagte.
Noch seien die meisten Gerichte nicht bereit zu akzeptieren, dass eine Person aufgrund ihrer Gene quasi keine Wahl habe. Die meisten hätten Angst vor einem derartigen genetischen Determinismus.
Außerdem könnte sich die Argumentation laut Farahany leicht umkehren: Wenn man genetisch "messen" kann, wer aggressiv und gewalttätig ist, ließe sich auch argumentieren, genau diese Straftäter härter zu bestrafen, da von ihnen eine größere Gefahr für die Umwelt ausgeht.
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