„Permanente Krise“
Als der dänische Botaniker Wilhelm Johannsen in seinem Buch „Elemente der exakten Erblichkeitslehre“ den Begriff „Gen“ das erste Mal verwendete, war weder klar, wie die Vererbung funktioniert, noch, was eigentlich vererbt wird.
"Das Wort Gen ist völlig frei von jeder Hypothese" und sei nur als eine Art Rechnungseinheit zu verwenden, lautete Johannsens bescheidene Formel anno 1909: "Man hat nicht das Recht, das Gen als
morphologisches Gebilde zu bezeichnen."
„Ich glaube, dass der Genbegriff immer schon in der Krise war, und dass er nie das Versprechen, das man in ihn gesetzt hat, eingelöst hat. Im Grunde hat er über ein Jahrhundert die Funktion gehabt, die Forschung voran zutreiben.“
Wenn Hans-Jörg Rheinberger, Direktor am Berliner Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte, eine begriffliche Krise diagnostiziert, dann ist das keinesfalls nur negativ gemeint. Im Gegenteil: Ein leistungsfähiges wissenschaftliches Konzept, sagt er, muss wandelbar sein, sonst ist es tot.
„Der Genbegriff ist immer ein unscharfer Begriff gewesen und hat aber aufgrund seiner Unschärfe ständig neue Anläufe provoziert. Dass ist es ja eigentlich, was man von interessanten und forschungsleitenden Begriffen überhaupt sagen kann. Und ich würde so weit gehen zu behaupten, dass die produktiven wissenschaftlichen Begriffe in der Krise sind – und zwar in einer permanenten Krise.“
Grenzen in Auflösung
Freilich: Dass Gene Abschnitte auf der DNA sind, die das Geschehen in der lebenden Zelle beeinflussen, bezweifeln weder Genetiker noch Historiker. Doch blickt man mit dem Vergrößerungsglas in die lebende Zelle, wird die Sache schnell komplizierter. Schwierigkeiten bereitet vor allem die Suche nach definierbaren Grenzen – und zwar sowohl in materieller wie in begrifflicher Hinsicht: Früher glaubte man beispielsweise, dass ein Gen immer ein Protein herstellen würde, doch die „Ein-Gen-ein-Protein-Theorie“ wurde schnell widerlegt.
Manche Gene können in zwei Richtungen abgelesen werden, manche Gene teilen sich Sequenzen auf der DNA, und die von ihnen erzeugten Abschriften werden oft so mannigfaltig editiert, gekürzt und neu zusammengesetzt, sodass von der originalen Sequenz nicht mehr viel übrig bleibt. In der „Genealogie der Moral“ hat Friedrich Nietzsche den Satz notiert: „Definierbar ist nur das, was keine Geschichte hat.“ Das gilt auch hier: Die strenge Definition des Gens fiel dem Fortschritt der Genetik zum Opfer.
Atome und Arten
Das ist kein Einzelfall. Auch der Atombegriff erfuhr in seiner Geschichte einige zum Teil radikale Wendungen. Die anfangs postulierte Unteilbarkeit, die im Wort átomos steckt, wurde beispielsweise aufgegeben und ein bis zwei Stockwerke tiefer den Elementarteilchen zugeordnet. Und die Vorstellung, dass es sich bei Atomen und ihren Bestandteilen um klar umrissene Gegenstände handeln müsse, landete ebenfalls im historischen Ausgedinge.
„Man kann hier durchaus eine Analogie zum Atombegriff sehen“, sagt Rheinberger gegenüber science.ORF.at. „Wenn man die Biologie auf der organismischen Ebene betrachtet, könnte man auch eine Analogie zum Artbegriff ziehen, der ähnlich krisenhaft konstituiert ist – und über den auch heute noch debattiert wird. Die Frage, was nun eine Art ist, ist bis heute nicht gelöst.“
Positiv gewendet könnte man sagen: Konzepte mit unscharfen Rändern erweisen sich oft als die besseren Forschungskatalysatoren. Fortschritte beginnen, wie die Geschichte der Genetik zeigt, nicht selten mit Metaphern, die – sofern erfolgreich – in den allgemeinen Sprachgebrauch übergehen. Ein Beispiel dafür: Die Betrachtung der DNA als Träger von Information.

Suhrkamp Verlag
Eine wissenschaftshistorische Bestandsaufnahme zu diesem Thema unternimmt Hans-Jörg Rheinberger in seinem aktuellen Buch „Das Gen im Zeitalter der Postgenomik“. Der mit seinem Kollegen Staffan Müller-Wille verfasste Text ist im Verlag Suhrkamp erschienen.
Informations-Metaphern
In der Zeit von Wilhelm Johannsen spielte dieser Ansatz zunächst noch keine Rolle. Damals dachte man in Bezug auf die Vererbung an „biologische Spezifitäten, die räumliche Metaphern waren, Schlüssel und Schloss etwa“, sagt Rheinberger.
Dieses Bild hat sich zwar bis heute erhalten, allerdings nur in der Welt der Proteine. Bei Enzymen oder Rezeptoren spricht man noch immer gerne vom Schloss und seinem räumlichen Gegenstück, dem Schlüssel.
„Ich glaube, dass der Begriff der Information für die Geschichte der Entstehung der Molekularbiologie eine ganz entscheidende Rolle gespielt hat. Im Selbstverständnis der Akteure hat dieser Begriff auch die Funktion gehabt, die Biologie von der Physik zu unterscheiden. Damit ging eine besondere Terminologie einher – Begriffe wie Transkription, Translation usw. Das sind abgesunkene Metaphern, die heute in jedem Lehrbuch wie selbstverständlich verwendet werden.“
Vom egoistischen Gen ...
Eine andere metaphorische Zuschreibung ist die vom „Egoistischen Gen“. Sie stammt vom britischen Biologen Richard Dawkins, der im Jahr 1976 ein Buch mit diesem Titel veröffentlicht hat – übrigens einer der absoluten Bestseller moderner Wissenschaftsprosa. Die Betrachtungsweise konkurrierender Gene, sei heute jedoch nur mehr bedingt aufrecht zu erhalten, sagt Rheinberger. Vor allem deswegen, weil Gene nicht wie Perlen einer Kette auf der DNA zu finden seien und viel stärker als integrierte Einheit auftreten, als früher gedacht.
... zum integrierten Genom
„Dieses Bild ist durch die Genomforschung der letzten drei Jahrzehnte zu Fall gebracht worden und ich glaube kaum, dass Richard Dawkins das gleiche Buch heute schreiben könnte. Die Vorstellung, dass Gene vollkommen von einander abgegrenzte Einheiten sind, die sich bekämpfen und aus der Evolution rausschmeißen können, die findet, in der Form, in der sich heute das Genom darstellt, keine Entsprechung mehr. Man könnte dann höchstens sagen, dass Genome egoistisch sind – aber auch das würde ich nicht besonders schlau finden.“
Nur: Ein Bestsellertitel wäre „Das integrierte Genom“ wohl kaum gewesen.
Robert Czepel, science.ORF.at
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