Im Interview plädiert sie für Fortschrittskriterien jenseits von Wirtschaftswachstum.
science.ORF.at: Ihr Buch trägt den Titel "Was verträgt unsere Erde noch?". Gibt es eine einfache Antwort darauf?
Jill Jäger: Ich denke schon. Weil wir jetzt schon sehen, dass wir mehr als einen Planeten pro Jahr brauchen, um unseren Ressourcenbedarf zu decken. Wir wissen, dass wir die Erde übernutzen, und sehen jetzt schon große Veränderungen. Die Erde verträgt nicht viel mehr, und es ist Zeit zu reagieren.
Was heißt: mehr als einen Planeten pro Jahr zu brauchen?

Sustainable Europe Research Institute
Jill Jäger arbeitet am Sustainable Europe Research Institute in Wien. Sie war stellvertretende Direktorin des Internationalen Instituts für angewandte Systemanalyse (IIASA) und geschäftsführende Direktorin des International Human Dimensions Programme for Global Environmental Change. Sie berät nationale und internationale Organisationen, darunter das Umweltprogramm der Vereinten Nationen.
Wenn wir rechnen, wie viele Ressourcen wir brauchen, um den Bedarf für Essen, Häuser, Autos und so weiter zu decken und wie viele wir benötigen, damit Wasser, Erde und Atmosphäre unseren Abfall absorbieren, sehen wir, dass wir in einem Jahr mehr als das verbrauchen, was die Erde nachhaltig produzieren kann.
Wo sieht man die Veränderungen?
Überall. Die Temperatur der Erdatmosphäre ist in den letzten hundert Jahren gestiegen, 40 Prozent der Fischbestände sind überfischt, andere sind an der Grenze zur Überfischung oder deutlich kleiner als vor 50 Jahren. Auch bei Wasser lässt sich die Übernutzung messen. Einige Flüsse gelangen in manchen Jahren nicht mehr ins Meer. Bei großen Flüssen wie dem Colorado oder dem Jangtse wird so viel Wasser für die Landwirtschaft heraus genommen, dass sie am Flussende nicht mehr genug Wasser haben.
Die Menschheit benutzt heute schon mehr als 50 Prozent der Landoberfläche. Wir sehen in Karten, wie viel Erde entweder erodiert oder so übernutzt worden ist, dass sie für die Landwirtschaft nicht mehr nutzbar ist.
Was sind die Ursachen dafür?
Es ist eine Kombination von Produktion und Konsum. Die Industrieländer verbrauchen deutlich mehr vom Planeten als die Entwicklungsländer. Europa hat einen Ökologischen Fußabdruck von fast fünf Hektar pro Person, Indien von 0,7.
Was könnte man dagegen tun?
Die Industrieländer sollten ihren Ressourcenverbrauch reduzieren; die Entwicklungsländer sollten die Möglichkeit haben, ihren weiter zu steigern. Nicht nur weil es gerecht ist, sondern damit wir auf einem nachhaltigen Niveau konvergieren können. Ressourcenverbrauch lässt sich durch Effizienz reduzieren.
Das heißt, dass wir Produkte mit weniger Ressourcen produzieren können. Das ist technisch möglich. Autos brauchen zum Beispiel heute weniger Benzin pro Kilometer als vor 20 Jahren. Insgesamt produzieren wir aber immer mehr Produkte. Wenn es immer mehr Autos gibt, hat man im Endeffekt doch nicht den Ressourcenverbrauch reduziert.
Gibt es einen anderen Weg, wenn Effizienz nicht hilft?

fischer verlag
Jill Jägers Buch "Was verträgt unsere Erde noch?" ist Teil einer Buchreihe zu Nachhaltigkeitsthemen. Am Freitag referiert Jäger bei der Vortragsreihe "Mut zur Nachhaltigkeit", bei der einige Autoren der Buchreihe sprechen.
Die Veranstaltung wird vom Zentrum für Globalen Wandel und Nachhaltigkeit der Universität für Bodenkultur (BOKU) in Zusammenarbeit mit der Initiative Risiko:dialog von Umweltbundesamt und Ö1 sowie der Stiftung Forum für Verantwortung organisiert.
In den nächsten Wochen werden in science.ORF.at Interviews mit den Vortragenden erscheinen.
Die zweite Schiene ist Suffizienz: Das heißt, dass wir nicht nur technisch effizienter werden, sondern dass wir Wege finden, wie wir weniger verbrauchen und sinnvoller mit den Ressourcen umgehen. Dass wir darüber nachdenken, wie viel wirklich notwendig ist. Möglicherweise haben wir auch mehr Lebensqualität, wenn wir weniger verbrauchen würden und nicht dauernd dem Wunsch nachlaufen, immer das Neueste zu haben. In den Industrieländern müssen wir Effizienz und Suffizienz in einer Strategie vereinen. Eines alleine reicht ziemlich sicher nicht aus.
Gibt es so eine Strategie schon?
Nein. Es gab einen guten Anfang 1992 mit der UNO-Konferenz für Umwelt und Entwicklung in Rio de Janeiro. Sehr vieles, was notwendig ist, ist damals gesagt worden. Nachher ist leider nicht viel passiert. Die Strategie, die damals Schwarz auf Weiß dargelegt wurde, wurde nicht umgesetzt. 2002 gab es die Weltkonferenz für Nachhaltige Entwicklung in Johannesburg mit einem Plan zur Umsetzung. In den letzten sieben Jahren ist wieder wenig davon geschehen.
Woran scheitert es?
Wir haben jetzt gelernt, dass es schwierig ist, global anzufangen, weil dann zwischen allen Staaten verhandelt werden muss. Wir sehen vielmehr, wie wichtig es ist, lokal und regional anzufangen und aufzubauen, dass alle in einen lokalen Dialog involviert sind. Wenn wir sehen, welche Optionen dort zur Verfügung stehen, ist es einfacher. Lokal kann man eher etwas erreichen.
Zudem sehen viele Leute nicht, welche Verantwortung sie haben, und was sie selbst tun können. Deshalb haben wir die Bücher geschrieben. Nicht nur Politiker haben eine Verantwortung. Auch normale Bürger und Bürgerinnen müssen sehen, was sie tun können.
Was zum Beispiel kann man tun?
Zuerst einmal weniger verschwenden. Es ist leicht, Kleinigkeiten zu ändern, zum Beispiel Lichter oder die Stand-by Funktion bei Geräten auszuschalten. Es gibt überall Möglichkeiten, weniger wegzuwerfen, Lebensmittel zum Beispiel. Es ist vielen auch bewusst geworden, dass wir regionale und saisonale Produkte verwenden, um hier Arbeitsplätze zu erhalten und riesige Transportwege zu reduzieren. Das sind relativ einfache Entscheidungen, die eine große Auswirkung haben, wenn viele das machen.
Auf der anderen Seite müssen Regierungen Rahmenbedingungen setzen. Zum Beispiel indem wir in einer ökologischen Steuerreform Ressourcen besteuern und Arbeit entlasten. Derzeit reflektieren die Preise nicht die wahren Kosten für die Umwelt.
Was heißt das?
Wir zahlen die Schäden nicht, die wir verursachen, wenn wir viele Kilometer im Jahr mit dem Auto fahren. Oder die Schäden durch die Emissionen, wenn wir billig fliegen. Die Schäden sind in den Preisen, die wir bezahlen, nicht eingerechnet. Bei einer ökologischen Steuerreform werden die Preise für Ressourcen teurer, für Arbeit aber billiger.
Wie wird sich denn die Wirtschaftskrise auf Nachhaltigkeit auswirken?
Themen wie Klimawandel und nachhaltige Entwicklung werden dadurch derzeit in den Hintergrund gedrängt. Die Aufmerksamkeit ist kleiner als vor einigen Jahren. Viele Länder, die vor fünf Jahren vielleicht bei der Klimakonferenz in Kopenhagen mutig mitgemacht hätten, sind jetzt eher zurückhaltend.
Möglicherweise haben wir die große Chance bei der Wirtschaftskrise verpasst. Es gab vom Umweltprogramm der Vereinten Nationen den Aufruf zu einem Green New Deal. Es ist deutlich gezeigt worden, dass mit der Krise die Chance da ist, große strukturelle Veränderungen zu unternehmen, zum Beispiel grüne Arbeitsplätze zu schaffen, Geld für grüne Infrastruktur zu investieren. Bis jetzt haben wir sehr viel Geld investiert, um alte Strukturen zu retten, zum Beispiel die Autoindustrie. Es wäre eine Chance, zu überlegen, wie die Industrie der Zukunft aussehen soll und jetzt Schritte dazu einzuleiten.
Wie könnte eine nachhaltige Wirtschaft aussehen?
Wir könnten zum Beispiel von Dienstleistungen sprechen und nicht von Produkten; d.h. nicht vom Auto, sondern wie komme ich von A nach B, nicht von der Waschmaschine, sondern wie bekomme ich saubere Kleider. Es geht nicht um Produkte, sondern um Dienstleistungen und das, was Menschen brauchen. Wenn man so wie beim Carsharing kein Auto besitzt, spart das auch Kosten und Nerven: den Kauf, die Versicherung, die Reparaturen.
Gibt es nachhaltiges Wirtschaftswachstum?
Das Problem ist, dass wir Wachstum als Maßstab nehmen, um Fortschritt zu messen. Wirtschaftswachstum zeigt nicht, ob die Gesellschaft in dem Jahr glücklicher oder die Umwelt sauberer geworden ist. Das heißt wir messen unseren Fortschritt nicht richtig. Für Nachhaltigkeit müssen wir andere Indikatoren haben.
Wirtschaftswachstum ist ein Treiber von Umweltveränderungen. Zurzeit bedeutet Wachstum auch mehr Umweltverbrauch. Seit 1950 gibt es eine gewaltige Beschleunigung, egal wo man hinschaut: Wasserverbrauch, Papierkonsum, Telefone, Autos, Tourismus, Düngerverbrauch. Wir reden von ein oder zwei Prozent Wachstum pro Jahr, sehen aber nicht, was das über 50 Jahre bedeutet. Dieses exponentielle Wachstum verträgt die Erde nicht mehr.
Mark Hammer, science.ORF.at