Zwar gibt es Gesetze und Vorschriften für "Bologna", ihre Umsetzung wird aber immer vom Unipersonal gemacht - insofern sieht sie "so viele Bologna-Prozesse wie Universitäten".
Im science.ORF.at-Interview betrachtet Haß, die vor kurzem ein Buch zum Thema herausgegeben hat, die aktuellen Proteste auch als Ausdruck der Demographie und einer Krise der Institutionen.

Ulrike Hass
Ulrike Haß ist Professorin und geschäftsführende Direktorin am Institut für Theaterwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum. Im Vorjahr hat sie das Buch "Was ist eine Universität? Schlaglichter auf eine ruinierte Institution" herausgegeben. Haß war vergangene Woche zu Gast in Wien im Rahmen einer Veranstaltung des Elfriede Jelinek Forschungszentrums
science.ORF.at: Warum sind die Universitäten "ruiniert", wie es im Untertitel Ihres Buches heißt?
Ulrike Haß: Unsere Universitäten beruhen auf Ideen des 18. Jahrhunderts: der Idee der Einheit von Forschung und Lehre sowie der Idee ihrer Freiheit. Ziel war die Erkenntnis von Wahrheit, errungen in gemeinsamer Anstrengung von Lehrenden und Lernenden. Die aktuellen Reformen haben diese Grundideen massiv angegriffen. Das Modulsystem schränkt die Freiheit von Forschung und Lehre ein. Das Seminar als Form der Einheit von Forschung und Lehre ist ebenfalls bedroht: Anstelle des Austauschs der um Erkenntnis Bemühten tritt eine verschulte Punktejagd.
Wer hat die Unis in Deutschland "ruiniert"?
Der gesamte Reformprozess hat etwas Gespenstisches. Die Bologna-Konferenz, bei der die europaweiten Studienreformen beschlossen wurden, lief ohne Öffentlichkeit ab, ihre Ergebnisse wurden erst Jahre später präsentiert. In der Zwischenzeit hat das Centrum für Hochschulentwicklungen - eine durch niemanden legitimierte, freie Vereinigung - in großer Eile Pläne für eine vollkommene Umstrukturierung der Hochschulen entwickelt. Diese Pläne wurden den Rektorenkonferenzen vorgelegt, die in der Regel die Vorschläge ohne eigenes Konzept übernommen haben. Die Rektoren haben sie dann auf den Unis umgesetzt. Betroffen sind nicht nur einzelne Studien, sondern die gesamte Hochschullandschaft. In Deutschland soll es A-, B- und C-Universitäten geben: Exzellenzunis, mittlere Universitäten und solche "regionalen Ranges", die reine Lehruniversitäten ohne Renommee sein werden.
Sie halten Bologna auch für den Ausdruck einer Institutionenkrise, was verstehen Sie darunter?
Wie an vielen anderen Unis in Deutschland und Europa ist derzeit auch das Audimax in Bochum besetzt, an der Universität von Ulrike Haß.
Ich denke, dass die gehegten Räume, in denen sich Jüngere und Ältere austauschen, ihre Form verlieren. Die Uni als geschlossenes Milieu - mit Aufnahmebedingungen, Prüfungen, Zertifikaten - mit ihrer Struktur eines gehegten Austausches wird zugunsten einer anderen Struktur aufgegeben - der des Unternehmens. Bildung wird zur Ware, Studienzeiten werden verkürzt, das betrifft v.a. den Bachelor als frei zugänglichen Teil des Studiums. Der Master soll tendenziell etwas kosten, das Studium verwandelt sich in permanente Weiterbildung.
Bochum war eine der ersten Unis, bei dem Bachelor und Master eingeführt wurden, wie waren die Erfahrungen?

Bologna Process
Die Bologna-Konferenz fand 1999 statt. Die Jubiläumskonferenz wird nächstes Jahr in Wien und Budapest veranstaltet. Oben zu sehen das offizielle Logo des Bologna-Prozesses.
Wir hatten einen sehr ehrgeizigen Rektor, unter dem die Reformen zwischen 2001 und 2004 in enormem Tempo durchgezogen wurden. Der Witz ist, dass es einerseits Gesetze gibt, diese aber immer von den Hochschulangehörigen umgesetzt werden. Es müssen die Beteiligten selbst formulieren, was etwa ein Modul in Germanistik ist. Wie man die Vorschriften auffasst, sowohl im Sinn als auch im Detail - was z.B. ist ein ECTS-Punkt? - ist eine Frage der Interpretation. Insofern gibt es so viele Bologna-Prozesse wie es Universitäten und Institute gibt.
Man versucht die Umsetzung natürlich möglichst vernünftig zu gestalten und muss dabei auch Tricks anwenden. Es empfiehlt sich z.B. die Module nicht zu eng zu bezeichnen, sonst muss man die Lehrinhalte ständig wiederholen. Gut sind Formulierungen wie "systematisches" oder "integrales Modul", da hat man weiter Wahlfreiheit. Und es ist auch nicht zwingend, dass der Bachelor nur sechs Semester umfasst. Würde er acht Semester dauern, wäre das Problem des Zeitdrucks schon viel geringer. Wahlfreiheit und weniger Zeitdruck wären elementar für gute Studienbedingungen.
Die Politik verspricht sich von Ausbildung eine Hauptantwort gegen Arbeitslosigkeit, speziell der Jugend. Wie sehen Sie das?
Ich denke, dass die Krise der Institutionen mit der Demographie zusammenhängt. Es sind ja nicht nur die Hochschulen in der Krise, sondern auch die Schulen, Familien, geschlossene Formen des Betriebs mit Lehrling und Meister: alles Institutionen, in denen es um Staffelübergaben von einer Generation zur nächsten geht. Diese Struktur entgleitet heute. Es gibt immer mehr Alte, die nicht alt werden und ihren Platz nicht räumen wollen. Es gibt Jüngere zwischen 20 und 40, mit denen die Gesellschaft immer weniger anzufangen weiß. In Nordrhein-Westfalen studieren heute 46 Prozent eines Jahrgangs, in manchen Ländern Osteuropas sind es bis zu 60 Prozent. Die Unis werden zu Auffangbehältern, nach ihrer Absolvierung beginnt für die jungen Menschen eine lange Durststrecke, wo sich Weiterbildung auf Weiterbildung häuft, Praktika warten, bis sie mit Mitte/Ende 30 eine Stelle erhalten, die den Namen auch verdient. Und dann gelten sie als "junge Kraft".
Welche Rolle spielen dabei die Hochschulen: Auffangbecken und Wartesaal?
Das sind die Formen, die von der Politik hilflos auf die Unis projiziert werden. Andersrum kann die Uni als ein Ort begriffen werden, in dem wir einen generationenübergreifenden Austausch haben. Ein Raum, in dem miteinander gestritten werden kann, wie die Situation ist und welche Lösung wir wollen.
Insofern verstehen sie die aktuellen Studentenproteste?
Ja, natürlich. Es ist wichtig, sich einmal eine Auszeit im Betrieb zu nehmen und über die Bedingungen dieses Betriebs nachzudenken. Solche Pausen sind immer produktiv, egal ob man Ziele erreicht oder nicht - zumeist ist das ja eher nicht der Fall. Es kommt gar nicht auf mehr Geld an, sondern dass wir eine Zeitreserve haben und einen Ort, wo wir über realistische Pläne diskutieren können.
Interview: Lukas Wieselberg, science.ORF.at
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