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Ausschnitt aus einem PC Spiel

Spielen als Technik des Selbst

Schon Friedrich Schiller betonte, wie wichtig Spiele für die Entwicklung des Menschen sind. Heute sind es v.a. Computer- und Rollenspiele, in denen Menschen und Avatare ihr multiples Wesen treiben. Das Subjekt wird dabei zur Summe seiner Selbstentwürfe, meint der Germanist Robert Matthias Erdbeer.

Theorie und Volkskunst 28.11.2009

Er hat in den Szenen der Gaming Culture recherchiert und dabei die "Technologien des Selbst" entdeckt, wie er in einem Gastbeitrag schreibt.

Gaming und die Tücke des Subjekts

Von Robert Matthias Erdbeer

Porträtfoto von Robert Matthias Erdbeer

Westfälische Wilhelms-Universität Münster

Robert Matthias Erdbeer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Germanistischen Institut der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und derzeit ifk Research Fellow.

„This is living“, so der Slogan eines Softwareunternehmens für sein jüngst beworbenes Objekt aus Mensch und Spielkonsole: Gaming ist das wahre Leben, der Mensch nur da ganz Mensch, wo er zockt. Und in der Tat: Die Gaming Culture, in der Mitte der Gesellschaft angekommen, hat vom Kinderzimmer bis zum Kapitalmarkt eine denkstilbildende Dynamik losgetreten, die Prozesse der gesellschaftlichen und privaten Selbstkonstitution als mythenhaftes Role-Play modelliert.

Im Gegenzug wird die konkrete Welt des Online- oder Pen&Paper-Rollenspiels erstaunlich arbeitsförmig, Spiel und Nichtspiel gleichen sich einander an und scheinen damit eine These zu belegen, die der niederländische Kulturanthropologe Johan Huizinga schon 1938 formulierte: Spielen ist weit mehr als eine kulturelle Praxis unter anderen, weil „die Kultur selbst Spielcharakter hat“.

Der neue Mensch

In dieser Twilight Zone aus Fakten und Fiktionen lässt sich eine neue Form von Subjektivität erkennen, die im Multiplaying das multiple Ich erzeugt. Die Gaming Culture löst hier spielend ein, was bei den Theoretikern des ‚Neuen Menschen‘ zu Beginn des 20. Jahrhunderts als politisches, genauer: biopolitisches Projekt gefordert worden war.

„Der Mensch“, schrieb 1904 der russische Kulturanthropologe Bogdanov, „ist noch nicht erschienen, doch er ist nahe, und seine Umrisse zeichnen sich deutlich am Horizont ab.“ „Der Mensch“, so Dostojewskis Ingenieur Kirillow im Roman Dämonen, „wird ein Gott sein und wird sich physisch umgestalten. Auch die Welt wird sich umgestalten, und die Dinge werden sich umgestalten und die Gedanken und alle Empfindungen.“

Im Gaming ist der Ort, der eine solche Neugestaltung möglich macht. Im Spiel betreibt das Selbst ein unablässiges self-fashioning, ein Sich-Entwerfen, das sowohl strategisch wie ästhetisch ist. Gemäß der Programmatik, die Foucault zur Aufgabe des postrationalistischen Subjekts erklärt, ist diese Neugestaltung gleichermaßen „intensiv“ wie „asketisch“: Sie verzichtet auf die lineare Ich-Erzählung und befördert eine variable „Ästhetik des Existenz“.

PC-Spieleszene: ein Krieger hält ein Schwert in der Hand

Robert Erdbeer

Postmodernes Subjekt führt ...

Vortrag zum Thema
Robert Matthias Erdbeer: Erspielte Evidenzen. Gaming und die Tücke des Subjekts
Ort: IFK, Reichsratsstraße 17, 1010 Wien
Zeit: 30. November 2009, 18.00 Uhr c.t.
Freier Eintritt

Das tückische Subjekt aus Avatar (der Spielfigur) und Gamer muss v.a. gut verwaltet werden, wenn es im Zusammenspiel mit anderen multiplen Charakteren zu gemeinsamen Erfolgen kommen will. Die Gaming Culture als Kultur ereignishafter Selbstentwürfe produziert auf diese Weise eine neue „Sorge um sich“. Fiktion und Wirklichkeit verbinden sich im Akt des „selbst-bewussten“ Spielens zu Funktionen eines lebenspraktischen Kontinuums, das leistet, was die Ethik fordert: „Technologien des Selbst“.

Als Medienphänomen ist diese Selbstsorge erstaunlich variabel, denn sie bleibt nicht auf die virtuelle Welt beschränkt. Auch hier gilt wieder eine Einsicht Huizingas: „Die Spielgemeinschaft hat die Neigung, eine dauernde zu werden, auch nachdem das Spiel abgelaufen ist.“ In der modernen Gaming Culture garantieren die „Communities“, die Clans und Gilden, jene ‚Dauerhaftigkeit‘, die Virtualität und Aktualität, das Ephemere und das Bleibende zur überzeitlichen und –räumlichen Erzählung integriert.

... zu neuer Volkskunst

Das neue Selbst entwirft sich somit nicht nur im konkreten Akt des Spiels; aus dessen Virtualität heraus erschafft es vielmehr Narrative, die global und regional, objektiviert und subjektiv zugleich erscheinen – in den Gaming-Foren, Netz-Romanen oder Videos („Machinimas“). Auf diese Weise wird das Selbst zum Integral der kommunikativen Selbstentwürfe, die es stiftet: Summe seiner Avatare, seiner bloggings, seiner quests und raids.

Im spielenden Subjekt, das auf der Modusgrenze von Fiktion und Wirklichkeit, von Individuum und Masse spielt, erhält die Theorie vom postmodernen, dezentrierten Selbst ihr eigentliches Testobjekt.

Denn „die Persönlichkeit“, so wußte schon der russische Biokosmist Murawjew, „ist ihrem Wesen nach eine Menge“; Multiplaying ist ihr Sammlungs- und Gestaltungsort. Die Gaming Culture wird auf diese Weise von der Praxis einer randständigen Popularkultur zur „neuen Volkskunst“, deren neue Subjektivität fiktiv, partikular und zufällig; real, universell und wesentlich zugleich erscheint. Als solche wird sie zum Skandal der Theorie.

Szene eines PC-Spiels: ein riesiger Wolf steht auf einer Wiese

Robert Erdbeer

Die Game Studies

Im Phänomen des Gaming finden die Kultur-, Sozial- und Geisteswissenschaften ein dynamisches Objekt, das ihre Grundkonzepte produktiv in Frage stellt. Was können „Arbeit“, „counterculture“, „race“ und „gender“, im Gefüge einer Netz-Gesellschaft heißen, die mit wechselnden, verdeckten und erfundenen Identitäten Nahverhältnisse begründet oder Umsätze erzielt mit Gütern, die im fiktionalen Spiel erwirtschaftet, in virtuellen Währungen gehandelt und für ihren Einsatz in der Spielwelt vorgesehen sind?

Kann man von Freiheit und Notwendigkeit, Gerechtigkeit und rechtsförmigen Akten sprechen, wenn die Welt als programmierte ihren „Usern“ mit fixierten Codes, Routinen und Prozessen gegenübertritt?
Sind die Gemeinschaftsnarrative Texte, Filme oder Aufführungen? Was bedeuten die Konzepte „Performanz“, „Präsenz“ und „Authentizität“ im virtuellen Raum? Erfüllt sich in der Netzkultur der Gaming Culture wirklich jener ‚Tod des Autors‘, der im poststrukturalistischen Diskurs doch nur heuristisch zu verstehen war? Ist Gaming ein Verfahren, das aus Theoriemetaphern Materialitäten, aus Abstraktem Konkretionen macht? Ist es der Ort, an dem die Unterscheidung von Fiktion und Wirklichkeit, von Wissenschaft und Mythos, von privat und öffentlich, von Arbeitszeit und Freizeit nicht mehr gültig oder nicht mehr sinnvoll ist? „Entlarvt“ die virtuelle Welt womöglich die Prozesse der realen? Oder umgekehrt?

Die junge Disziplin der Game Studies versucht sich diesen Fragen zuzuwenden aus der Perspektive einer Forschung, die – wie einstmals Schiller oder Huizinga – den Spielbegriff erneut zum leitenden Konzept erhebt; das Selbst ist nur Selbst, wo es spielt.

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