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"Die Grenze ist erreicht"

Die Welt steckt in der Wirtschaftskrise, Banken gingen pleite oder wurden mit Steuergeldern gerettet, ganze Länder sind bankrott. Der Ökonom Dirk Solte erklärt in einem Interview, dass die Finanzkrise im Grund eine Wertschöpfungskrise ist.

Finanzkrise 30.12.2009

science.ORF.at: Sie schreiben in ihrem Buch, dass Wirtschaftskrisen rückblickend eher der Normalzustand als die Ausnahme sind. Warum wirkt die Menschheit dann immer so unvorbereitet?

Dirk Solte: Das hat viele Dimensionen. Eine ist, dass wir es als Gesellschaft in der Vergangenheit nicht geschafft haben, Verantwortlichkeit für systemische Risiken unter anderem auf politischer Ebene zu verankern. Das ist nicht nur ein Versäumnis der Politik. Wir als Bürger haben dies auch gar nicht eingefordert. Es gibt auch niemanden, der die Wissenschaft beauftragt, sich hier Gedanken zu machen.

Beauftragt wird nur, wofür man zuständig ist und für systemische Risiken und Vorsorge gibt es keine Zuständigkeiten. Das ist sicher einer der entscheidenden Gründe, weshalb man hier keine Blaupause in der Schublade hatte. Und das, obwohl viele Leute heute sagen, sie hätten die Krise vorhergesehen, und hätten nur nicht sagen können, wann es passiert.

Wirtschaftskrisen gibt es seit Jahrhunderten. Kann es da tatsächlich nur an der Auftragsforschung liegen?

Porträt Dirk Solte

FAW Ulm

Der Ökonom Dirk Solte ist Stellvertreter des Vorstands am Forschungsinstitut für anwendungsorientierte Wissensverarbeitung in Ulm, Privatdozent für Betriebswirtschaftslehre an der Universität St. Gallen und Chefökonom und Kommissionsleiter „Steuern und Finanzmarkt“ des Bundesverbandes für Wirtschaftsförderung und Außenwirtschaft.

Die Wissenschaft weiß inzwischen viel über Krisen. Man weiß aber nicht genügend über die wirklichen Wirkungsmechanismen. Die haben sich auch verändert. Zentral ist das Problem des Verteilungskampfs um eine zu geringe Wertschöpfung auf dieser Erde. Es sind immer mehr Menschen da, immer mehr kommen hinzu. Allerdings wird dieses Thema nicht klar und eindeutig in der Öffentlichkeit diskutiert.

Es ist auch noch nicht in Breite in den Köpfen, dass die Wertschöpfung nicht beliebig gesteigert werden kann – zum Beispiel wegen des Klimawandels. Man muss Umwelt, Wirtschaft, Sozial- und Steuersysteme interdisziplinär betrachten. Dazu sind aber unsere Strukturen in der Wissenschaft bislang eher hinderlich. Wir sind immer noch in einem laufenden Prozess, bis wir genügend verstehen, dass und wie Finanzsystem, Weltwirtschaft, Umwelt und Sozialthemen zusammenhängen.

Wie zum Beispiel?

Wir produzieren auf der Erde über alle Völker hinweg Wertschöpfung – das sogenannte Weltbruttoinlandsprodukt. Dafür brauchen wir Umwelt. Wenn die Umwelt begrenzt ist, ist die Produktionstechnologie zusammen mit der Umwelt die Grenze für das, was wir an Waren und Dienstleistungen produzieren können. Und Sozialsysteme beanspruchen einen immer größeren Teil dieser gesamten Wertschöpfungsfähigkeit. Allein wenn die Menschheit schneller wächst als die Wertschöpfungsfähigkeit hat man offensichtlich ein Problem.

Wie spielt die Finanzkrise hier hinein?

Cover des Buches "Kartenhaus Weltfinanzsystem"

Fischer Verlage

Das Buch „Das Kartenhaus Weltfinanzsystem“ von Dirk Solte und Wolfgang Eichhorn ist in einer Reihe von Büchern zu Nachhaltigkeitsthemen erschienen.

Die Autoren beschreiben darin die aktuelle Wirtschaftskrise und präsentieren ein Programm aus sieben Punkten, mit dem zukünftige Krisen vermieden werden sollen. Es umfasst neben den im Interview erwähnten Maßnahmen unter anderem eine Steuer für Finanzmärkte, sowie die „Mehrgeldsteuer“ (leverage money tax) zur Co-Finanzierung und Verankerung von Sozial- und Umweltstandards als Verfahrensstandards in der Welthandelsorganisation WTO.

Mehrere der Bücher wurden dieses Semester bei der Vortragsreihe „Mut zur Nachhaltigkeit“ in Wien präsentiert, zu der auf science.ORF.at begleitend Interviews erscheinen.

Weitere Interviews mit Autorinnen und Autoren der Buchreihe:

Wir haben fehlende Wertschöpfung durch immer mehr Kredite ersetzt. Wenn man einen Kredit aufnimmt, gibt man aber demjenigen, von dem man auf Kredit etwas kauft, ein Versprechen, dass man in Zukunft Wertschöpfung produzieren wird, mit der man den Kredit zurückzahlt. In der Vergangenheit und aktuell schon wieder wuchsen permanent die Verschuldung der Welt und damit die Versprechen, in der Zukunft Wertschöpfung zu produzieren.

Die Verschuldung wächst seit vierzig Jahren bei weitem schneller, als unsere Fähigkeit zur Wertschöpfung. Wir können bislang die Wertschöpfung nicht beliebig steigern, weil wir nur unsere eine „Mutter Erde“ haben. Die Natur ist begrenzt, das Wachstum der Wertschöpfung kann mit der Verschuldung nicht mithalten, auch weil nicht alle Menschen die notwendigen Vorraussetzungen für Innovation und effiziente Wertschöpfung haben (z.B. Bildung, Gesundheitsversorgung, Netze, etc.).

Irgendwann wäre also die Grenze erreicht?

Sie ist erreicht. Es werden immer mehr Kredite aufgenommen und es wird immer mehr zukünftige Wertschöpfung bereits heute konsumiert. Auch wer Geld zum Beispiel in einem Pensionsfonds (als Teil kapitalbasierter Sozialsysteme) anlegt, spart für sich eine erhoffte Wertschöpfung aus der Zukunft an – dies sind Schulden von Anderen. Seit 40 Jahren wachsen die Schulden und es müssen immer mehr Zinsen bedient werden. Es bleibt so immer weniger Wertschöpfung für das Gemeinwesen, die Grundlage für Wertschöpfung, über. Dann wird immer weniger in Straßen, Gesundheit, Bildung, etc. investiert. Die Wertschöpfungsfähigkeit sinkt. Oder die Produktivität muss gesteigert werden – etwa indem man Leute entlässt oder Löhne senkt. Das läuft seit Jahren so.

Das allein hat aber noch nicht zur Krise geführt.

Die Krise wurde letztendlich auch dadurch ausgelöst, dass immer mehr Leute, auch institutionelle Anleger, ahnen oder wissen, dass diese Ansprüche auf Wertschöpfung, die „verbrieften“ Kredite, mit hohem Risiko behaftet sind. Man glaubt nicht mehr daran, dass diese Wertschöpfung tatsächlich einmal kommt. Man will aus diesen Ansprüchen raus, aber es gibt keinen, der einem das abkauft. Das hat zu diesem Zusammenbruch geführt.

Kann man dann auch die knappen Ressourcen als Gründe für die Krise bezeichnen?

Das ist einer der Gründe. Man sieht es nur nicht so klar. Das ist auch so schwierig, dass es öffentlich bislang nicht ausreichend diskutiert wird.

Ist dann das Bild falsch, dass es bei der aktuellen Krise um eine Immobilienblase ging?

Das war ein Auslöser, aber nicht der Grund für das systemische Problem. Wir reden vielfach nur über die Symptome, nicht über die wirklichen Ursachen. Hinter der Immobilienkrise steckt ein Bewertungsschema, mit dem man jedem Besitz einen Wert, ausgedrückt in Geldeinheiten, zuordnet. Das muss man verstehen, um zu wissen, wie viel Eigenkapital die Finanzmarktakteure überhaupt wirklich haben. Denn der Wert heute ist ein „Zukunftswert“, man zaubert Wertschöpfung aus der Zukunft in die Gegenwart. Wir haben diesen „Zaubertrick“, sich mit Fair Value reicher zu rechnen als man ist, im Buch beschrieben.

Wie geht der?

Dem Vermögen von Unternehmen und Haushalten werden erhoffte Wertschöpfungen aus der Zukunft zugeordnet. Man hat zum Beispiel gesagt, wenn in der Nähe eines Hauses eine Schule renoviert wird oder ein Supermarkt entsteht, ist das Umfeld besser und deshalb das Haus mehr wert. Man hat dann zum Beispiel zugelassen, dass die Hausbesitzer auf diesen schlussgefolgerten aber nicht wirklich geleisteten Mehrwert Konsumkredite aufnehmen konnten.

Die durften auf Basis dieser erhofften oder vermuteten Wertsteigerung des Hauses zusätzliche Wertschöpfung auf Kredit konsumieren, also dabei noch mehr neue Versprechen auf Wertschöpfung in der Zukunft abgeben (die Kredite). Man hat sich erhofft, dass es irgendjemanden geben wird, der diese Wertschöpfung auch tatsächlich leistet. Das müsste beispielsweise jemand sein, der das Haus zu dem höheren Kaufpreis kaufen kann, ohne noch mehr Kredite aufzunehmen. Dafür müsste er aber entsprechend viel Wertschöpfung mit leisten. Dies geht aber nicht so einfach, denn ohne enorme Innovationen und Investitionen ist die Wertschöpfungssteigerung begrenzt, weil wir begrenzte Naturressourcen haben und die Basis fehlt oder in einem schlechten Zustand ist.

Gibt es Parallelen zwischen der jetzigen Krise und jener der 30er-Jahre?

Charles P. Kindleberger konnte in seinem schönen Buch („Manien, Paniken, Crashes“, Anm.) jede vergangene Krise mit gerade mal sieben Parametern einsortieren. Viele Krisen seit dem 17. Jahrhundert hatten im Kern ein ähnliches Muster. Sie resultierten letztendlich aus Überschuldung. Heute ist diese Überschuldung teilweise versteckt. Finanzinstitute hätten schon längst negatives Eigenkapital ausweisen müssen, wenn es nicht diese Fair-Value-Bewertung gäbe. Das wird jetzt überdeutlich sichtbar und führt aktuell zu einer Kreditklemme. Denn die Fähigkeit Kredite zu vergeben, hängt von der Verfügbarkeit von Eigenkapital ab.

Ein anderer Einflussfaktor der Geldschöpfungsfähigkeit des Finanzsystems ist die Liquidität, also die Verfügbarkeit von Zentralbankengeld. Wenn dieses spezielle Geld gehortet wird und nicht umläuft, kommt es zur Krise. Das war in früheren Krisen und ist heute so. Die Leute haben vor 80 Jahren in den USA die notwendige Grundlage für alles Zentralbankengeld, das Gold, gehortet, was Präsident Roosevelt dann verboten hat. Er hat aber die Zirkulation von Zentralbankengeld damit nicht in den Griff bekommen. Das Problem des Hortens ist heute immer noch da, betrifft aber nicht mehr das Gold, denn Zentralbankengeld ist nicht mehr durch Gold gedeckt. Man müsste daher aktuell dem Horten von Zentralbankgeld eine Obergrenze setzen.

Wie ginge das?

Indem für den Besitz von Zentralbankgeld nicht nur – wie bislang – eine Untergrenze (Mindestreserve), sondern auch eine Obergrenze (Maximalreserve) gesetzlich vorgeschrieben würde.

Warum wird das nicht gemacht?

Ich hoffe, dass das noch kommt. Im Augenblick profitieren diejenigen, die Liquidität haben. Sie können sehr günstig Sachvermögen in „fire-sales“, das sind Notverkäufe bei Zahlungsschwierigkeiten, erwerben.

Sie schreiben auch, dass die Staatsschulden ein großes Problem sind.

Fehlende Wertschöpfung wurde in den vergangenen Jahrzehnten dauernd über immer mehr Staatsschulden ersetzt. Zugleich haben die größten Akteure durch die Ausnutzung von Steuersystemdifferenzen – ganz legal – nicht mehr ihren fairen Beitrag für die Gesellschaft entrichtet. Den Staaten droht der Bankrott. Es geht daher darum, dass wieder alle fair ihren Beitrag leisten;. Es geht um Steuergerechtigkeit, um ein faires globales Steuersystem, wo die ökonomisch Leistungsfähigsten die höchsten Steuern zahlen.

Sie schreiben in Ihrem Buch, dass wir in diesem Jahrhundert noch zehn Finanzkrisen zu erwarten haben, wenn man sich deren regelmäßiges Auftreten in der Geschichte ansieht. Zeichnet sich die nächste schon ab?

Die Probleme, die hinter den Problemen liegen sind bisher nicht gelöst. Momentan läuft das Spiel wie vorher weiter. Ein viel zu großer Teil der Ökonomie, der Wirtschaftsleistung, ist maßgeblich kreditfinanziert. Der Schuldenberg der Welt wächst wieder bei weitem schneller als die ökonomische Leistungsfähigkeit. Es ist nur eine Frage der Zeit, wann die nächste Krise kommt. Mit jedem Mal wird es schlimmer – bis zum wirklichen Kollaps. Die Politik hätte jetzt aber auch die Möglichkeit, auf Basis der G-20-Prozesse die richtigen Weichen zu stellen, um das zu verhindern. Aktuell ist das zentrale Problem der Geldblase noch überhaupt nicht gelöst. Dafür müsste man eine Finanzmarktsteuer einführen, eine „Mehrgeldsteuer“ (leverage money tax), eine Abgabe auf alle Finanzprodukte.

Man hat also auf die jetzige Krise Ihrer Meinung nach nicht ausreichend reagiert?

Nein, man hat nur auf Symptome reagiert, nicht die zentralen Probleme gelöst. Man hat jetzt aber noch die Chance. Im nächsten Jahr werden wir vermutlich erleben, ob sich die Weltgesellschaft für einen Weg in die Balance entscheidet oder ob die nächste Welle der Krise kommen wird.

Interview: Mark Hammer, science.ORF.at

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