science.ORF.at: Welche sind derzeit die größten Ursachen des Artensterbens?
Josef Reichholf: Global ist das zweifellos die Vernichtung tropischer Regenwälder und anderer tropischer und subtropischer Regionen zum Anbau von Futtermitteln und zur Erzeugung von Biomasse für Biokraftstoffe. Die Tropen sind mit Abstand die artenreichsten Regionen. Was dort an Fläche verschwindet, bedeutet den Verlust an Arten, die wir noch gar nicht kennen.
Forum für Verantwortung
Der Zoologe, Evolutionsbiologe und Ökologe Josef Reichholf war Professor für Naturschutz an der Technischen Universität München und leitet die Wirbeltierabteilung der Zoologischen Staatssammlung in München.
In Mitteleuropa haben wir die moderne Landwirtschaft, die Gülle ausbringt. Dadurch wird ein Großteil Mittel- und Westeuropas seit Jahrzehnten katastrophal überdüngt. Dies drängt die Artenvielfalt massiv zurück. Übrig bleiben Restbestände, die sich oft nicht mehr erhalten können, weil sie zu klein geworden sind.
Die Landwirtschaft ist also der Hauptverursacher?
Bei weitem. Alles andere – Siedlungstätigkeit, Baumaßnahmen, Verkehr, Industrie, Straßen – liegt da weit dahinter.
Welche Rolle für das Artensterben spielen der Handel mit seltenen Tier- und Pflanzenarten und die Jagd nach manchen Tieren?
Das ist sehr unterschiedlich. In einigen Bereichen hat sich der internationale Artenschutz positiv ausgewirkt. Der Leopard ist in Afrika wieder häufiger, seit man nicht mehr im Leopardenfellmantel herumläuft. Aber bei der weitaus größten Zahl der geschützten Arten ist der gegenteilige Effekt zustande gekommen: Alles, was begehrt war, hat weiterhin Begehrlichkeiten erweckt und wurde in den Schwarzmarkt abgedrängt. Gerade für hochgradig gefährdete Tierarten wird von entsprechenden „Liebhabern“ sehr viel mehr Geld bezahlt, als das in früheren Zeiten der Fall war.
Bei uns in Mitteleuropa sind viele Tier- und Pflanzenarten geschützt und damit gleichsam tabuisiert. Kinder- und Jugendliche haben viel seltener und oft überhaupt keinen Kontakt mehr mit freilebenden Tieren und Pflanzen, weil sie in der Schule nicht darauf hingewiesen werden. Lehrer brauchen für die Beschäftigung mit der Natur eine Ausnahmegenehmigung. Das ist absurd.
Wofür zum Beispiel?

Fischer Verlage
Josef Reichholfs Buch „Ende der Artenvielfalt? Gefährdung und Vernichtung von Biodiversität“ ist in einer Reihe von Büchern zu Nachhaltigkeitsthemen erschienen.
Mehrere der Bücher wurden dieses Semester bei der Vortragsreihe „Mut zur Nachhaltigkeit“ in Wien präsentiert, zu der auf science.ORF.at begleitend Interviews erscheinen. Reichholf referiert am 21. Jänner um 18 Uhr.
Weitere Interviews mit den Autorinnen und Autoren der Buchreihe:
Dafür, dass sie geschützte Arten im Unterricht zeigen dürfen. Alle Amphibien sind geschützt. Was früher im Schulaquarium bequem dargestellt werden konnte – die Entwicklung vom Froschlaich zur Kaulquappe und zum Frosch – bedarf heute einer Sondergenehmigung. Die Verwandlung einer Raupe über die Puppe zum Schmetterling ebenso – von wenigen Arten abgesehen, die die Lehrer aber dann nicht kennen. Das gilt auch für das Halten von Eidechsen in einem Terrarium.
Das sind Auswüchse, die dem Artenschutz sehr geschadet haben. Jugendliche und junge Erwachsene haben dadurch für heimische Arten keine Wertschätzung mehr. Man darf die Arten nicht sammeln; man darf nicht mal Federn sammeln, damit man eine Freude hat und was lernt. Das ist völlig in die falsche Richtung gegangen. Da wären Korrekturen zum Artenschutz notwendig.
Wie könnten die aussehen?
Da wo Schutz nachweislich zur Verbesserung der Lage der betreffenden Art geführt hat, ist er gerechtfertigt. Wo das aber nicht der Fall ist, wo zum Beispiel der Rückgang nicht mit dem Sammeln zu tun hatte, sondern etwa die Landwirtschaft Schuld war, sollten diese einschränkenden Bestimmungen aufgegeben werden. Denn nur das, was man schätzt, wird man schützen wollen. Was man nicht mehr kennen lernen darf, wird man aber nicht schätzen lernen.
Man wagt ja nicht mal mehr einen Blumenstrauß zu pflücken, während die Landwirtschaft von den Bestimmungen des speziellen Artenschutzes ausgenommen ist. Konrad Lorenz wäre in der gegenwärtigen Situation nicht mehr möglich. Er hätte als junger Mann keine Genehmigung bekommen, Dohlen oder all die anderen Tiere zu halten, und mit diesen Erkenntnissen zur Verhaltensforschung zu kommen.
Welche Tier- und Pflanzenarten sind derzeit am stärksten gefährdet?
Das sind in erster Linie Arten, die trockenwarme, magere Lebensräume besiedeln. Die ziehen sich zurück, weil durch die Überdüngung des Landes die bodennahen Verhältnisse durch die Verdichtung der Vegetation kühler und feuchter werden.
Was wären solche Lebensräume?
Das sind Hänge, Triften, früher auch Ackerraine, die Puszta im Seewinkel oder die Hainburger Berge. Diese Gebiete werden zum Teil weniger genutzt, wachsen dann zu und werden dichter, kälter und ungeeigneter für die bedrohten Arten. Das übrige Land, wird hingegen massiv gedüngt und zeigt im Bodenbereich ebenfalls diese kühlfeuchten Verhältnisse, die die meisten wärmeliebenden Arten nicht vertragen.
Obwohl durch das Düngen mehr Nährstoffe vorhanden sind, nimmt die Artenvielfalt also ab?
Das gilt an Land wie im Meer: Der Mangel ist die Mutter der Vielfalt. Da wo Mangel herrscht, sind die Arten gezwungen, sich anzupassen und mit wenigem auszukommen. Wo die Wiesen mager sind, sind sie voller Blüten unterschiedlicher Blumenarten. Wo sie durch Gülle oder Mineraldünger fett geworden sind, entsteht ein Einheitsgrün, das im Frühjahr einmal kräftig Farbe anlegt, wenn der Löwenzahn in Massen blüht, aber die bunte und duftende Vielfalt verschwindet.
Ähnlich ist es im Meer. Wo Nährstoffe in großem Umfang verfügbar sind, gibt es einige wenige Fischarten. Das Ökosystem ist hochproduktiv und nutzbar. Wo das Meer mager ist, wie im tropischen Korallenriff, haben wir die bunte Artenvielfalt. Doch die ganze Welt wird seit Jahrzehnten permanent überdüngt. Durch diese Eutrophierung verschieben sich die Artenspektren und einige wenige Arten gewinnen die Oberhand.
Der Wunsch, die Artenvielfalt zu erhalten, ist andererseits aber auch ein rein menschlicher. Aus ökologischer Sicht könnte man ja sagen, dass Arten immer schon ausgestorben sind.
Diese Frage ist in der Tat schwierig zu behandeln. Für viele Arten können wir gegenwärtig wirklich nicht sagen, wofür sie gut sind, aber das schließt nicht aus, dass später bedeutende Eigenschaften gefunden werden. Wer hätte vor der Entdeckung des Penicillins jemals die Idee gehabt, dass Schimmelpilze nutzbringend für Menschen sein könnten? Pflanzenzucht- und Pharmafirmen sind weltweit auf der Suche nach genetischem Material, nach Eigenschaften, die irgendwo in Tieren und Pflanzen versteckt sind und sich nutzen lassen.
Wie viel Erfolg versprechen Schutzmaßnahmen derzeit?
Radio Österreich 1 und science.ORF.at begleiten das Jahr der Biodiversität mit Schwerpunkten.
Die Ausformulierung von Zielen lässt sehr zu wünschen übrig. Wir haben am Erdgipfel von Rio die Erhaltung der Biodiversität als Ziel beschlossen. In den letzten zwei Jahrzehnten ist aber weder im Hinblick darauf noch auf die Umsetzung von Nachhaltigkeit in wirtschaftliche oder gesellschaftspolitische Entwicklung Nennenswertes geschehen. Insofern muss man mit großer Skepsis in das Jahr 2010, das Jahr der Biodiversität, hinein blicken, ob es vielleicht nur ein Jahr der Worte bleibt und keine nennenswerten Taten folgen.
Auch wenn es schwer zu schätzen ist: Wie viele Arten gibt es auf der Erde und wie viele könnten aussterben?
Circa 1,8 Millionen Tier- und Pflanzenarten sind bis jetzt wissenschaftlich beschrieben. Ob es global zehn oder hundert Millionen Arten gibt, darüber kann man trefflich diskutieren, aber nichts Konkretes aussagen. Mit artenreichen Lebensräumen gehen erhebliche Prozentsätze an Arten verloren, die wir nicht kennen, weil wir bisher nur einen winzigen Ausschnitt des Artenspektrums erfasst haben.
Die nachgewiesenermaßen ausgestorbenen Arten betreffen in aller Regel große Tiere und ein paar Pflanzenarten, die auch leicht erkennbar sind. Bei solchen plakativen Arten geht die Rate des Aussterbens zurück, weil man sich für ihre Erhaltung einsetzt. Die Masse des Artensterbens fand im 17., 18. und zum Teil noch im 19. Jahrhundert statt, als auf ozeanischen Inseln Vögel wie der Riesenalk oder die Dronte tot geschlagen wurden.
Was momentan passiert, wissen wir nicht, weil sich das Aussterben im unbekannten, unsichtbaren Bereich vollzieht. Eines ist aber klar: Die Neubildungsrate von Arten ist viel geringer, als die Rate, mit der wir die Welt gegenwärtig verändern.
Auch manche Ökosysteme werden ja immer seltener.
Der Verlust der Biotope ist die Hauptursache für den Rückgang der Artenvielfalt, denn die meisten Arten, die verschwinden, werden nicht aktiv bekämpft. Sie gehen verloren, weil ihnen die Lebensräume entzogen werden.
Wäre der Schutz von Ökosystemen also wichtiger als der Schutz von Arten?
Der Schutz von Einzelarten lohnt eigentlich nur, wo es sich um große Arten handelt und wo die Jagd die entscheidende Größe darstellt. Ob Bären oder Wölfe bei uns leben dürfen, hängt nicht von der Qualität des Landes ab, sondern ob von der Bevölkerung akzeptiert wird, dass diese Tiere da sind. Durch den Schutz der Greifvögel ist eine Wiederkehr der Adler im Alpenraum möglich geworden. Aber die Kleinarten hängen von den Lebensräumen ab. Deswegen sind in unserer Kulturlandschaft durch die Neuschaffung geeigneter Lebensräume durchaus Chancen gegeben, dem Artenschwund entgegen zu wirken.
Wir könnte das funktionieren?
Indem man neue Teiche anlegt – Kleingewässer in Kiesgruben und Sandgruben. Man kann auch Teile der Landschaft verwildern lassen, wie das etwa in Frankreich gemacht wird. Wir neigen dazu, viel zu sehr alles genau zu regeln, zu hegen und zu pflegen. Ein bisschen Schlamperei würde der Natur oft sehr zugutekommen.
Mark Hammer, science.ORF.at