science.ORF.at: Sie haben sowohl Mathematik als auch Philosophie studiert. Was verbindet diese Fächer - die Frage nach dem Grundsätzlichen?
Hannes Leitgeb: Ja, durchaus. In beiden Fächern geht es darum, wirklich klar zu sehen. In der Mathematik ist das auf einen gewissen Bereich beschränkt, auf Mengen, Zahlen, Funktionen usw. Der Philosoph will in allen Gebieten klar sehen - Wahrheit, Wirklichkeit, Möglichkeit, Erkenntnis, Geist, Sprache und vieles mehr. Um diese Klarheit zu erreichen, ist es meiner Ansicht nach für die Philosophen wichtig, sich der Sprache der Mathematik zu bedienen.
Mathematik und Logik haben den Vorteil, begriffliche Unschärfen zu vermeiden. Das könnte allerdings auf Kosten der Ausdrucksmittel gehen.

Hannes Leitgeb
Hannes Leitgeb hat an der Universität Salzburg studiert, ist zur Zeit "Professor of Mathematical Logic and Philosophy of Mathematics" an der University of Bristol und wurde kürzlich von der Ludwig-Maximilians-Universität München für eine hoch dotierte Humboldt-Professur vorgeschlagen. Dort soll er ein Zentrum für mathematische Philosophie aufbauen und verstärkt mit Kollegen aus der Neurowissenschaft zusammenarbeiten.
Das ist ein Wechselspiel. Typischerweise würde man in der Philosophie damit beginnen, einen Begriff zu betrachten. Etwa den der Wahrheit: Er kommt in der Alltagssprache vor, er ist vage, unscharf, aber wir können ihn dennoch sinnvoll verwenden. Der Philosoph versucht nun ein Gegenstück dieses Alltagsbegriffs zu finden, der sich mit den Mitteln der Logik und Mathematik exakt ausdrücken lässt.
Bei dieser Schärfung wird zwar einiges aus der Alltagssprache verloren gehen, aber der Kern wird erhalten bleiben. Und was man dabei gewinnt, ist: Man kann Gesetze der Wahrheit aufstellen und man kann daraus logische Folgerungen ziehen.
Sie waren bereits als 35-Jähriger Professor in Bristol, und wurden nun mit 37 für eine Humboldt-Professur an der Universität München vorgeschlagen. Was haben sie ihren Mitbewerbern voraus?
Eine schwierige Frage (lacht). Zunächst einmal war auch etwas Glück dabei. Zweitens war für mich entscheidend, dass ich, nachdem ich Assistent an der Uni Salzburg geworden bin, mit einem Schrödinger-Stipendium für ein Jahr nach Stanford gegangen bin.
Das hat mich mitten ins Geschehen gebracht, mir Kontakte ermöglicht und schließlich Angebote eingebracht. Jenes der University of Bristol habe ich angenommen - das war für mich eine Art Karriere-Boost, von dem ich immer noch zehre.
Um nach Stanford zu kommen, muss man aber bereits etwas vorweisen können.
Man muss Leistungen zeigen. Ich hatte zu diesem Zeitpunkt schon ein paar Artikel in den besten Zeitschriften veröffentlicht. Das war sozusagen mein Entrée, gekannt habe ich in Stanford damals noch niemand. Wo man herkommt, ist nicht so wichtig.
Das heißt als Karriereempfehlung für junge Kollegen: Gute Papers veröffentlichen und auf jeden Fall ins Ausland gehen.
Genau.
Die Humboldt-Professur ist mit beträchtlichen Geldmitteln verbunden. Theoretiker bekommen 3,5 Mio. Euro für ihre Forschungen, empirisch arbeitende Kollegen sogar fünf Mio. Wofür werden Sie das Geld verwenden?
Das muss noch in Verhandlungen geklärt werden. Ich habe auch andere Angebote, unter anderem eines aus Stanford. Doch das Münchner Angebot ist sehr attraktiv. Das Geld soll jedenfalls in der Hauptsache Jungwissenschaftlern zu Gute kommen.
Das heißt, ich würde eine Reihe neuer Stellen für Philosophinnen und Philosophen schaffen - auf dem Level von Post-Docs oder Doktorats-Studenten.
Wie sieht der Arbeitsalltag eines mathematischen Philosophen aus?
Ich verstehe, dass das seltsam klingt. Wenn man "Philosophie" hört, denkt man in der Regel eher an Fragen wie "Was ist der Sinn des Lebens?" Aber es gibt auch eine wissenschaftlich orientierte Philosophie, und zwar schon lange:
Aristoteles hat die formale Logik begründet, Leibniz wollte Metaphysik so wie Mathematik betreiben, und der Wiener Kreis hat die Logik zum Werkzeug der Philosophen erklärt. Mathematische Philosophen nähern sich den klassischen Fragen so an, wie es ein Naturwissenschaftler tut, wenn er die Realität beschreiben will.
In der Erkenntnistheorie verwenden wir zum Beispiel Wahrscheinlichkeitsrechnung, in der Metaphysik ist die Graphentheorie sehr wichtig. Letztere braucht man zum Beispiel, wenn man Eigenschaften, wie etwa Farben, auf Ähnlichkeitsbeziehungen zwischen Gegenständen zurückführen will.
Manche Mitglieder des Wiener Kreises, Rudolf Carnap etwa, haben in den 1920er Jahren die Auffassung vertreten, wissenschaftlich sei nur das, was sich logisch darstellen lässt. Stimmen Sie dem zu?
Ja, dem würde ich auch heute noch zustimmen, nur sind die logischen Beschreibungsmöglichkeiten heute viel reichhaltiger. Wenn etwas wissenschaftlich ist, dann kann man es auch präzise sagen - und es muss auch eine formale Struktur geben, die sozusagen darauf passt.
Aber diese Struktur muss nicht von der eingeschränkten Art sein, die Rudolf Carnap und der Wiener Kreis im Sinn hatten. Logik war für Carnap im Wesentlichen deduktive Logik. Wenn ich von Logik spreche, meine ich viel mehr.
Es gibt Logiker, die selbst Metaphysik in logische Formen übersetzen. Ist jede Philosophie formalisierbar - etwa auch die von Hegel, Heidegger, Derrida?
Das ist eine gute Frage. Ich würde sagen: Ja, dort, wo das, was diese Philosophen gesagt haben, hinreichend klar ist, ist es logisch darstellbar.
Äh, da haben Sie sich aber um die Frage ...
Gut gemacht, nicht? (Lacht). Eines möchte ich noch hinzufügen: Der Einsatz logischer Methoden ist in der Metaphysik heute gang und gäbe, für die jungen Metaphysiker ist das ganz normal.
Kann man auch einen Satz wie "Ich liebe dich" logisch ausdrücken? Oder allgemeiner: Sind Emotionen logifizierbar?
Den Satz "Ich liebe dich" kann man sehr wohl in einer logischen Sprache ausdrücken, allerdings geht bei der Übersetzung etwas verloren. Genau so, wie auch etwas verloren geht, wenn ein Naturwissenschaftler bei der Beschreibung der Natur idealisiert und abstrahiert. Im Fall der Liebe dürfte jedoch das Verlorene genau das Wesentliche sein, nämlich die Emotion selbst.
Sie haben im Bereich der neuronalen Netze Pionierarbeit geleistet. Können diese Arbeiten kurz erläutern?
Man kann neuronale Netze so beschreiben, dass sie Schlussfolgerungen der Art "Wenn A dann B" treffen. Ein Beispiel: Den Satz "Wenn Oswald Kennedy nicht ermordet hat, dann hat es jemand anderer getan", wird jeder akzeptieren. "Wenn Oswald Kennedy nicht ermordet hätte, dann hätte es jemand anderer getan", ist hingegen nicht sofort akzeptabel.
Denn wenn ihn Oswald nicht getötet hätte, wäre Kennedy womöglich sehr alt geworden. In Wenn-dann-Sätzen steckt also mehr, als man glaubt.
Bei meinen Forschungen hat sich herausgestellt: Die Bedingungen, unter denen ein neuronales Netz so einen Satz akzeptiert, sind relativ einfach definierbar. Daraus kann man wiederum Regeln ableiten, wie neuronale Netze Schlüsse auf Basis solcher Wenn-dann-Sätze ziehen können.
Interessanterweise haben Computerwissenschaftler etwas ganz Ähnliches herausgefunden, als sie ihren Rechnern solche Schlüsse beigebracht haben. Und in der Philosophie der natürlichen Sprache wurden ebenfalls die gleichen Regeln entdeckt.
Das Argument des Chinesischen Zimmers richtet sich gegen die Ansicht mancher KI-Forscher, Denken sei nichts anderes als neuronales Rechnen und Bewusstsein daher in Computer implementierbar.
Sie werden, so sie die Professur in München annehmen, dort verstärkt mit Neurowissenschaftlern zusammenarbeiten. Der US-Philosoph John Searle hat in einem berühmten Argument darauf hingewiesen, dass man aus der reinen Syntax keine Bedeutung melken kann. Unsere Gehirne müssen also etwas tun, wozu Computer (noch) nicht in der Lage sind. Was könnte das sein?
Es ist richtig, dass die Bedeutungen von Symbolen nicht durch formale Beziehungen hergestellt werden können - sondern erst durch den Kontakt mit der Welt. Wie das funktioniert, ist eine wichtige und unbeantwortete Frage.
Die Philosophie des Geistes ist sehr wichtig, sehr schwierig, und weil sie so schwierig ist, befindet sie sich in keinem guten Zustand. Der Einsatz mathematischer Methoden hat in diesem Gebiet noch nicht einmal richtig begonnen.
Diese drei Sätze sind auch unter dem Namen Bieri-Trilemma bekannt. Als "Trilemma" bezeichnet man ein Dilemma mit drei Optionen.
Der Schweizer Philosoph Peter Bieri hat das Leib-Seele-Problem einmal in folgende Kurzform gebracht. Er sagt: Von diesen drei Sätzen sind nur jeweils zwei miteinander verträglich: 1. Das Mentale ist nichts Physikalisches. 2. Das Mentale erzeugt kausale Wirkungen. 3. Die physikalische Welt ist kausal geschlossen. Welchen Satz würden Sie über Bord werfen?
Ich würde Annahme eins aufgeben.
Ist es dann nicht eigenartig, dass die Elektrochemie der Neuronen eine bunte Welt von Empfindungen erzeugt?
Ja, es gibt ein berühmtes Argument, das besagt, dass hier eine Erklärungslücke besteht. Irgendwann streckt auch der Wissenschaftsphilosoph die Waffen und muss sagen: "Weiter kann ich nicht gehen." Wenn man gläubig ist, kann man vielleicht noch eine Stufe weiter gehen - aber dann verlässt man den Bereich der Wissenschaft.
Zum Schluss noch ein Wordrap. Bitte um sehr kurze Antworten zu sehr großen Fragen:
Was ist Wahrheit?
"Schnee ist weiß" ist wahr genau dann, wenn Schnee weiß ist.
Was ist Wissenschaft?
Der Versuch, so nah wie möglich an die Wahrheit zu kommen.
Was ist Geist?
Ich kenne keine einzige gute Definition von Geist.
Interview: Robert Czepel, science.ORF.at
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