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Natur als zu schützendes Gut

Es gibt viele Gründe, Biodiversität zu erhalten. In Tieren und Pflanzen steckt das Potential für neue Medikamente und landwirtschaftliche Schädlinge können ohne Pestizide im Zaum gehalten werden. Philosophen fragen aber auch nach dem Wert der Natur an sich und der Verantwortung des Menschen dafür.

Ethik 05.03.2010

Für den deutschen Umweltethiker Martin Gorke ist alles in der Natur schützenswert. Im Interview erklärt er seine Sichtweise und warum man sich trotzdem gegen Eisbären wehren und das Pockenvirus bekämpfen darf.

science.orf.at: Welchen Grund gibt es, die Natur nur um ihrer selbst willen zu erhalten?

Poträt Martin Gorke.

Martin Gorke

Martin Gorke (51) ist Privatdozent für Umweltethik an der Universität Greifswald. Er schrieb unter anderem das Buch „Artensterben. Von der ökologischen Theorie zum Eigenwert der Natur“ (Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 1999). Mehrere seiner Aufsätze sind über die online-Bibliothek umweltethik.at verfügbar.

Martin Gorke: Die Basisprämisse ist der moralische Standpunkt: Man muss sich selber als moralischer Mensch verstehen, als jemand, der nicht nur seine eigenen Interessen durchzusetzen versucht, sondern sich verallgemeinerbaren moralischen Grundsätzen unterwirft. Wenn man sich auf diesen Standpunkt eingelassen hat, ist meine These, dass man nicht mehr wählerisch sein kann, welche Wesen in die Moralgemeinschaft aufgenommen werden. Moral ist ihrem Wesen nach universal. Sie versucht sich in irgendeiner Form immer auf alle zu beziehen.

Dann lautet die Frage: Wer sind alle? Meines Erachtens haben die, die die Moralgemeinschaft kleiner als universal fassen wollen, die Begründungspflicht. Wenn man sich darüber einig ist, das Moral universal ist, muss man jede Einschränkung rechtfertigen.

Welche Einschränkungen gibt es?

In der Umweltethik gibt es vier Grundtypen mit unterschiedlich großen Moralgemeinschaften. Die Version mit der kleinsten Moralgemeinschaft ist der Anthropozentrismus. Dort haben nur Menschen einen Eigenwert. Dann gib es die pathozentrische Ethik, bei der alle bewusstseins- und leidensfähigen Wesen einen solchen haben.

Bei der Biozentrik kommt allen Lebewesen ein Eigenwert zu, und beim Holismus auch dem Unbelebten, alle Arten und Ökosystemen sowie der gesamten Biosphäre. Die holistische Umweltethik ist die, die am weitesten hinausgreift. Deswegen hat sie auch am meisten Kritik erfahren.

Wie sieht diese Kritik aus?

Die Vereinten Nationen haben das Jahr 2010 zum internationalen Jahr der Biodiversität erklärt. Radio Österreich 1 und science.ORF.at begleiten es mit Schwerpunkten.

Auf Ö1 sind schon bisher jeden Montag in der Sendung „Wissen aktuell“ Beiträge zu einer Jahresserie zu hören. Ab 8. März werden auch regelmäßig Beiträge in den Sendungen „Vom Leben der Natur“, „Radiokolleg“ und „Dimensionen“ ausgestrahlt.

Hierzulande haben Lebensministerium und Umweltbundesamt eine Informationsplattform zum Thema Biodiversität eingerichtet.

Webseite der UN zum internationalen Jahr der Biodiversität

Die erste ist die, dass man die holistische Ethik gar nicht braucht. Mit einem aufgeklärten Anthropozentrismus könne man alles genau so gut hinbekommen, wie mit einer erweiterten Moral. Zweiter Kritikpunkt: Man könne so eine erweiterte Moral eigentlich nur rechtfertigen, wenn man Metaphysik einbaut, also weltanschauliche Voraussetzungen, die kaum für alle ethisch verbindlich gemacht werden können.

Der dritte Einwand ist, dass es bei einer so großen Moralgesellschaft, bei der jedes Insekt und jeder Stein noch moralisch berücksichtigt werden müsste, so viele Zielkonflikte gibt, dass man sie nicht bewältigen könne. Wenn alles einen Eigenwert hat, dann könne man in dieser Welt nicht mehr agieren und dürfe nichts mehr antasten. Doch mit Vorrangregeln kann man abwägen und eine Option der anderen vorziehen.

Wie könnten diese Regeln aussehen?

Erstens das Prinzip der Selbstverteidigung: Wenn man von einem Eisbären angegriffen wird, ist es legitim, das eigene Leben zu schützen. Viele Vorbehalte gegenüber dem Biozentrismus oder Holismus kann man damit entkräften. Viele Kritiker sagen, Biozentrismus oder Holismus widersprechen dem Selbsterhaltungsstreben des Menschen, denn dann müsste man ja auch das Pockenvirus rücksichtsvoll behandeln.

Das zweite Prinzip ist das der Verhältnismäßigkeit. Es ist uns aus der zwischenmenschlichen Ethik vertraut. Existentielle Bedürfnisse sollen demnach Luxusbedürfnissen vorgezogen werden. Da bleiben aber jede Menge Probleme. Wenn man etwa an kulturelle Bedürfnisse denkt, die nicht existentiell sind, aber doch einen großen Teil des Menschseins ausmachen und auf die wir nicht verzichten wollen. Dann braucht man ein weiteres Prinzip und das ist jenes des kleinsten moralischen Übels.

Etwa wenn man entscheiden muss, ob man für eine Baufläche lieber ein Moor trocken legt oder Wald rodet?

Da muss man Abwägungskriterien heranziehen, anhand derer sich feststellen lässt, wo der Schaden kleiner ist.

Welche Kriterien wären das?

Zum Beispiel die Entstehungskomplexität oder in welchem Umfang Leben beeinträchtigt wird, ob Leid für Tiere mit im Spiel ist oder seltene Arten betroffen sind. Es gibt aber noch ein viertes Prinzip: Jenes der Verteilungsgerechtigkeit. Wenn andere Lebewesen auch einen Eigenwert haben, muss auch ihnen ein angemessener Anteil an der Erdoberfläche und den Ressourcen zugesprochen und ausreichend Raum gelassen werden. Das bedeutet, natürliche Systeme so wenig wie möglich zu instrumentalisieren und zu überformen. Das ist analog zur zwischenmenschlichen Ethik: Da heißt Respekt vor anderen auch, ihre Autonomie zu achten und sie sich selbst entfalten zu lassen.

Wie wird der Eigenwert der Natur begründet? Ist nicht auch diese Sicht anthropozentristisch, da jede Umweltethik von Menschen erdacht wird?
Man muss zwischen einem strukturellen, erkenntnistheoretischen Anthropozentrismus und einem ethischen unterscheiden. Alles Reden über die Natur und den Umgang mit ihr kann immer nur aus der menschlichen Perspektive vorgenommen werden. Man darf aber aus diesem strukturellen, erkenntnistheoretischen Anthropozentrismus keinen ethischen ableiten. Wenn nur Menschen über Ethik nachdenken können, heißt das noch lange nicht, dass nur Menschen direkte Gegenstände von Ethik sein können.

Aber ist nicht dennoch jede Form der Umweltethik und damit auch der holistische Standpunkt subjektiv?
Zu diesem Schluss könnte man angesichts der Meinungsverschiedenheiten in der Umweltethik kommen. In Wirklichkeit sprechen aber solche Diskussionen gerade dagegen. Über Geschmacksfragen, etwa ob die eine Spaghettisauce besser schmeckt als die andere, kann man nämlich gar nicht streiten. Dazu fehlen die objektiven Kriterien. Die meisten Ethiker glauben aber solche zu haben. Sie gehen genauso wie Wissenschaftler davon aus, dass es so etwas wie objektive Wahrheit gibt, der man gemeinsam näher kommen kann. Ethik hat wie Wissenschaft einen Wahrheitsanspruch.

Worauf baut der auf?
Auf einer rationalen Diskussion, den besseren Argumenten und einer Anerkennung der Tatsachen. Bei den Tatsachen ist natürlich immer ein hypothetisches Element drin. Wir können zum Beispiel niemals sicher wissen, wie ein Tier sich fühlt, wenn es eingesperrt ist. Aber die Verhaltensforschung kann hier indirekt Hinweise geben.

Aber lässt sich hier rein mit Fakten argumentieren?
Wertannahmen sind hier natürlich genauso wichtig. Da sie stark von Weltbildern geprägt sind, kommt hier freilich ein subjektives Element hinein, das die Diskussion oft erheblich erschwert. Aber man kann auch für oder gegen Weltbilder argumentieren. So ist das Weltbild des Anthropozentrismus, das heute immer noch bei den meisten Menschen implizit vorherrscht, inzwischen objektiv unglaubhaft. Demnach wäre die gesamte Natur dazu da, uns zu dienen.

Aus Ihrer Sicht kein legitimer Standpunkt.
Als man noch weniger über die Natur wusste, war dies plausibel. Im 13. Jahrhundert nahm Thomas von Aquin an, dass Pflanzen geschaffen wurden, um Tiere zu ernähren, und Tiere geschaffen wurden, um Menschen zu ernähren. Aus heutiger Darwinscher Perspektive ist das nicht mehr haltbar.

Das lässt sich auch schön am planetarischen Kalender illustrieren: Wenn die 4,5 Milliarden Jahre Erdgeschichte auf ein Jahr verkürzt werden, taucht Homo sapiens am 31. Dezember kurz vor Mitternacht auf. Hier zu behaupten, die gesamte Natur sei nur für uns da, erscheint naiv. Nimmt man die heutigen Einsichten der Naturwissenschaften ernst, hat man große Probleme, eine anthropozentrische Ethik zu vertreten.

Wie hat sich die Umweltethik im Lauf der Geschichte verändert?
Es gibt kein einheitliches Bild. Hans Jonas hat die These vertreten, dass Natur als Gegenstand menschlicher Verantwortung ein Novum in der ethischen Theorie sei. Doch in der Antike gab es sowohl anthropozentrische wie auch patho- und biozentrische Denkrichtungen. Es gab auch Naturreligionen, die Respekt vor dem Unbelebten hatten, obwohl der Verantwortungskreis noch gar nicht bis zu allen Menschen reichte; Sklaverei war noch weit verbreitet.

Schon vor 2.000 Jahren gab es Formen des Respekts gegenüber der Natur. Östliche Religionen sind schon lange zum Biozentrismus vorgedrungen, aber zum Teil gebunden an die weltanschauliche Voraussetzung der Wiedergeburt. Ohne diese Prämisse ist es schwieriger, eine so weit reichende Verantwortung plausibel zu machen. Man muss dann philosophisch anders ausholen. Albert Schweitzer hat das getan. Aber eine holistische Sichtweise ist heute immer noch eine Minderheitenposition in der Umweltethik.

Mark Hammer, science.ORF.at

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