Aus der Öffentlichkeit hat sich der in Tübingen lebende Wissenschaftler komplett zurückgezogen. Zwar ist er geistig fit, aber die Gesundheit macht ihm doch zu schaffen. Einige seiner Vorlesungen sind ohnehin längst in die Geschichte der Philosophie eingegangen.
Radio-Hinweis
"Nachdenken über Ethik" heißt die Ö1 Dimension, die sich am 8.3. dem 80. Geburtstag von Ernst Tugendhat widmet (19.05 Uhr, Radio Österreich 1).
Klassische und analytische Philosophie verbunden
Es war vor allem seine Arbeit zur sprachanalytischen Philosophie, die Ernst Tugendhat in Deutschland berühmt gemacht hat. Nach seinem Studium in den USA brachte er die angelsächsisch-analytische Schule nach Deutschland und wurde schließlich als Professor einer ihrer Hauptvertreter.
"Das menschliche Verstehen lässt sich nur in Reflexion auf fundamentale sprachliche Strukturen erhellen", lehrte er. Dabei bemühte er sich, die klassische und die analytische Philosophie zu verbinden: Die alten Fragen nach Sein, Bewusstsein und Welterfahrung wollte er mit neuen analytischen Methoden präziser bestimmen und damit auch der analytischen Philosophie zu einem Traditionsbewusstsein verhelfen.
Moral betrifft Wollen
Die "Philosophische Audiothek" bietet einiges zu Ernst Tugendhat an. Hier ein Gespräch der beiden Philosophen von der Uni Wien Elisabeth Nemeth und Herbert Hrachovec mit Ernst Tugendhat über Heidegger, Naturalismus und philosophische Anthropologie.
In den 1980er Jahren wandte sich Tugendhat verstärkt der praktischen Philosophie zu. Fragen nach Moral und Ethik beschäftigten ihn. Er betonte, dass sich moralische Maßstäbe nicht einfach aus der menschlichen Vernunft ableiten ließen: "Moral betrifft vielmehr menschliches Wollen." Wer sich selbst als Person achten wolle, der müsse sein Handeln an allgemein anerkannten moralischen Ansprüchen ausrichten, argumentierte Tugendhat auf Basis der Vertragstheorie.
Auf diese Weise kam der Philosoph zur Friedensbewegung, in der er sich vor allem gegen den NATO-Nachrüstungsbeschluss, gegen den Golfkrieg und für ein großzügigeres Asylrecht engagierte. Entscheidend war für ihn dabei der Ansatz, dass ein Mensch jeden anderen Menschen gleichermaßen achten müsse.
Bewegtes Leben
Als Kind eines jüdischen Elternhauses hatte Tugendhat erfahren, was es bedeutet, als ungleich zu gelten. Die Familie floh 1938 vor den Nationalsozialisten aus Brünn (heute Brno in der Tschechischen Republik) - zuerst in die Schweiz, später nach Südamerika.
Nach dem Krieg studierte Tugendhat an der Stanford-Universität in Kalifornien Klassische Philologie. Zum Studium der Philosophie Martin Heideggers kam er 1949 nach Europa zurück. Freiburg, Tübingen, Heidelberg, das Max-Planck-Institut Starnberg, die Freie Universität Berlin - das waren seine wichtigsten Stationen, bis er 1992 wieder nach Südamerika ging, um in Santiago de Chile zu lehren.
Seinen Abschied aus Deutschland verknüpfte er mit kritischen Bemerkungen zur Wiedervereinigung (für ihn ein "Anschluss Ostdeutschlands") und zum "massiven Rückfall in den Fremdenhass".
"Ich werde nicht fertig"
1998 kehrte Tugendhat nach Tübingen zurück, einem "Ort mit guten Bibliotheken", an dem er seinen Lebensabend verbringen wollte. Dort beschäftigte er sich viel mit Fragen nach Sterben und Tod. Für ihn waren das zugleich Fragen nach dem gelingenden Leben, wie er betonte.
Auch wenn er in den vergangenen Jahren kaum noch publizierte, hat er sich seine "denkerische Unruhe" in seiner Altbau-Wohnung im Zentrum Tübingens bewahrt. "Ich habe meine Meinungen immer wieder geändert", sagte Tugendhat einmal rückblickend. "Das geht mir eigentlich mit allen Fragen so: Ich werde nicht fertig."
Marc Herwig, dpa
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