Dann könnten überfrachtete Studienpläne mancher Studienrichtungen besser reformiert und der Sinn des Abschlusses in den Mittelschulen auch besser erklärt werden, meint Winckler im Gespräch mit science.ORF.at.
Der Bachelor wurde im Rahmen des Bologna-Prozesses eingeführt, dessen Zehn-Jahres-Jubiläumskonferenz diese Woche in Wien und Budapest stattfindet. Kritik an Bologna war ein Auslöser für die Uniproteste im vergangenen Herbst.
science.ORF.at: Warum ist "Bologna" in weiten Teilen der Unis so übel beleumundet?

APA - Herbert Neubauer
Der Wirtschaftswissenschaftler Georg Winckler war Präsident des Verbands europäischer Universitäten und ist aktuell Rektor der Universität Wien. Er hat den Bologna-Prozess von Anfang an forciert. Im Bild ist er im besetzten Audimax im Dezember 2009 zu sehen.
Georg Winckler: Weil Altes sehr häufig verklärt gesehen wird. Es ist aber Aufgabe der Universität, sich auch auf Neues einzustellen. Und da gibt es zwei Trends, mit denen wir konfrontiert sind. Zum ersten werden die Bildungs- und Berufschancen der jungen Leute zunehmend europäisch, sie wollen nicht nur im Inland, sondern auch im Ausland tätig sein. Deswegen ist klar, dass das Studium auch eine Bildung und Ausbildung bringen muss, die über Österreich hinausreicht.
Zum zweiten können und müssen wir im Gegensatz zu früher, als das Studium eine Elitenbeschäftigung war, davon ausgehen, dass mehr als 50 Prozent eines Jahrgangs studieren werden. Mehr Studierende erfordern mehr Differenzierung und in einem Land wie Österreich größere Stufigkeit des Bildungsangebots. Mit beiden Trends müssen sich die Unis auseinandersetzen. Auf beides gibt Bologna eine Antwort.
Woher kommt dann die starke Kritik an Bologna?
Georg Winckler: Ich halte das für eine typische menschliche Reaktion, dass man zunächst sagt: Jetzt haben wir schon so viele Veränderungen in den letzten Jahren vorgenommen, wir haben eine neue Uni-Organisation, wir haben eine Reform des Hochschulstudiums in den 1990er Jahren hingenommen, warum schon wieder eine Reform?
Einer der Ursachen der Uniproteste im Herbst war Bologna: Mit einigen Monaten Abstand - wie begegnen Sie heute der Kritik der Studierenden?
Zehn Jahre Bologna-Prozess
Juni 1999 wurde die Bologna-Erklärung unterschrieben, für Österreich vom damaligen Wissenschaftsminister Caspar Einem. Am 11. und 12. März treffen sich 46 europäische Bildungsminister zur - etwas verspäteten - 10-Jahres-Jubiläums-Konferenz.
Die zentralen Punkte der Bologna-Erklärung:
- Schaffung eines europäischen Hochschulraums,
- Einrichtung eines vergleichbaren Leistungspunktesystems (ECTS),
- Förderung der Mobilität,
- europaweite Qualitätssicherung und
- ein neues System von Studienabschlüssen.
Georg Winckler: Zunächst einmal haben wir ein Kommunikationsproblem: Über Jahrzehnte hat sich an der österreichischen Studienarchitektur nichts geändert, sodass die Lehrer und Lehrerinnen in den Mittelschulen, aber auch die Eltern zuhause immer gute Hinweise geben konnten, in welche Richtung junge Leute studieren sollten. Durch die neuen Bachelor- und Masterstudien fallen diese Gruppen als Ratgeber aus, somit ist eine gewisse Ratlosigkeit entstanden. Wir müssen deshalb die neue Studienarchitektur besser in den Mittelschulen kommunizieren, damit sie angenommen und von Eltern und Lehrern nicht als feindlich eingestuft wird.
Der zweite Punkt ist, dass das Wissenschaftsministerium den Unis keine Extramittel zur Verfügung gestellt hat, um den Umstieg auf Bologna vorzunehmen. In den vergangenen Jahren ist die Zahl der Studierenden ohnehin schon wesentlich stärker gestiegen als die Uni-Budgets. Das Budget der Uni Wien hat sich z.B. in den letzten sechs Jahren real vielleicht um fünf Prozent erhöht, die Studierendenzahl ist aber von 67.000 auf 85.000 gestiegen, also um 25 Prozent. Studenten-orientiertes Lernen, wie es bei Bologna im Mittelpunkt steht, kann damit nicht erreicht werden. Die Betreuungsrelation - das Verhältnis von Studierenden zum Personal - wurde schlechter und nicht besser: Das hat mit Bologna aber nichts zu tun, sondern liegt daran, dass die Politik bei offenem Hochschulzugang nicht ausreichend Mittel zur Verfügung stellt.
Ihre Botschaft an die Studierenden lautet also: mehr Wunsch nach Geld und bessere Kommunikation?
Radio-Hinweis
Dem Thema "Studieren heute - zehn Jahre nach Bologna" widmen sich auch die Ö1 Dimensionen: am Mittwoch, 10.3, 19.05 Uhr, Radio Österreich 1.
Georg Winckler: Ich interpretiere die Proteste so, dass die Studierenden nicht auf Bologna umsteigen wollen, weil sich die Betreuungsrelationen verschlechtern. Das ist verständlich, hängt aber nicht zusammen. Die Politik hätte die Bologna-Umstellung finanziell stützen müssen, so wie in der Schweiz, die rund 50 Millionen Franken extra nur für diese Zwecke zur Verfügung gestellt hat. In Österreich gab es keinen Euro.
Viele Kritiker orten eine Überfrachtung der Curricula, man habe aus vierjährigen Diplomstudien einfach dreijährige Bachelor gemacht etc., besteht diese Kritik zu Recht?
Unis zweifeln am Bachelor
Die überwiegende Mehrzahl der europäischen Universitäten hat Zweifel an der Arbeitsmarktfähigkeit von Bachelors. Das zeigt eine am Dienstag präsentierte Studie der European University Association. Demnach halten nur 15 Prozent der Unis eine Bachelor-Ausbildung "für eine angemessene Vorbereitung auf das Berufsleben". Bei der Einführung des dreigliedrigen Studiensystems Bachelor/Master/PhD waren die Unis aber fleißig: 95 Prozent haben es bereits umgesetzt.
Georg Winckler: In einigen Studienfächern ja. Der Grund liegt aber etwas tiefer. Er liegt auf der einen Seite darin, dass in der Öffentlichkeit nicht klar ist, welche Berufschancen ein Bachelor vorfinden soll. Es wäre gut gewesen, die öffentliche Hand wäre dabei mit gutem Beispiel vorangegangen, stattdessen hat sie die Bachelors im selben Entlohnungsschema wie die Maturanten behalten. Und so ist der Arbeitsmarkt vielfach ratlos über die Berufschancen von Bachelors geblieben.
Die Unis waren in der Schwierigkeit, dass sie dem Bachelor Berufsfähigkeit verleihen wollten - die berühmte Employability. Das hat dazu geführt, dass sehr viel Spezialwissen in die Curricula geschrieben wurde, es war aber nicht klar, inwieweit auch noch allgemeine Bildung vermittelt werden soll.
Was kann man in der Hinsicht in Zukunft besser machen?
Georg Winckler: Im angloamerikanischen Raum, wo es lange schon die Tradition des Bachelor gibt, dient er nicht dazu, in konkrete Berufsfelder einzusteigen, sondern vor allem einer generellen Bildung, einer Berufsvorbildung. Das wäre ein möglicher Weg, den man gehen könnte.
Ein anderer Weg wäre, das Qualifikationsprofil des Bachelor zu schärfen. Nur ein Beispiel: Im öffentlichen Dienst gab es schon immer einen Karriereweg, der zwischen der A- und B-Wertigkeit stand - die Volksschullehrer, Diplomingenieure, die nach drei Jahren ihr Studium beenden konnten. Vielleicht sollte man sich etwas Ähnliches auch in anderen Bereichen überlegen, sei es in Wirtschaft, Recht, Technik oder Naturwissenschaft, und nach den Erfordernissen die Curricula entsprechend bauen. Was nicht geht, ist, dass man Berufsfähigkeit verlangt, die Richtung aber nicht klar ist, und dann sagt: Die Unis haben ihre Lehrpläne überfrachtet.
Sind die Studienpläne nun auch aus Ihrer Sicht überfrachtet?
Georg Winckler: Die sogenannten Voraussetzungsketten (jene Lehrveranstaltungen, die man absolviert haben muss, um andere besuchen zu dürfen, Anm.) der Studienpläne sind zu stark vertreten. Und das hat zwei Gründe. Zum einen ist wie gesagt nicht klar, welche Berufschancen mit dem Bachelor verbunden sein sollen, das führte zum Teil zur Überfrachtung. Zum anderen wollte man wegen der steigenden Studierendenzahl das Niveau der Verbindlichkeit heben. Aber nochmals: Beide Punkte hängen mit Bologna nicht direkt zusammen, sondern haben die Problemlagen nur bewusster gemacht.
Nicht zuletzt wegen der Unsicherheit auf dem Arbeitsmarkt wollen mindestens 85 Prozent der Uni-Studierenden nach dem Bachelor weiter studieren ...
Georg Winckler: Das entspricht meiner Aussage, dass der Master im Gegensatz zum Bachelor ein klares Berufsbild hat. Wenn ich mir aber den angloamerikanischen Markt anschaue: In den USA gibt es etwa 16 bis 17 Millionen Studierende, davon sind rund 80 Prozent im Bachelorstudium, d.h. der US-Arbeitsmarkt nimmt den Bachelor an.
Abgesehen von der Berufsbefähigung: Speziell in geisteswissenschaftlichen Fächern vermissen viele Kritiker fehlende Wahlmöglichkeiten. Braucht es hier nicht das "geistige Flanieren" statt verschulter Zielstrebigkeit?
Georg Winckler: Ich war immer ein Anhänger für die Beibehaltung von Freiräumen, und ich habe selbst mit großem Vergnügen Vorlesungen aus der Psychologie bis hin zur Mathematik in der Chemie gehört. Wenn Sie sich wieder das angloamerikanische System anschauen: Dort existiert eine große Offenheit, dort besteht im Bachelorstudium nur die Verpflichtung, einen Major zu haben.
Die Schwierigkeit in Österreich hängt wieder mit der Berufsbefähigung des Bachelor zusammen. Bei der Curricula-Erstellung entstand die Sorge, dass man diese Berufsbefähigung in drei Jahren nur mittels Verschulung erreichen kann. Also auch deshalb brauchen wir eine Diskussion über das allgemeine Verwendungsbild des Bachelor und über die Frage nötiger Freiräume im Studium.
Wir wollen diese Freiräume an der Universität Wien, sie sind auch verankert. Sie heißen halt nicht mehr Wahlfächer, sondern Erweiterungscurricula, und sollen sicherstellen, dass ein Historiker etwa auch Rechtsfächer belegen kann.
Ein Ziel von Bologna war die Erhöhung der studentischen Mobilität. Zumindest was die relativen Zahlen betrifft, wurde sie bisher nicht erreicht - warum?
Georg Winckler: Mit den längeren Studiendauern war früher die sogenannte horizontale Mobilität - d.h. innerhalb des Studienprogramms im Ausland zu studieren - relativ einfach. Mit den sechs Semestern des Bachelor ist das natürlich schwieriger. Was aber steigen soll, und das war die Idee von Bologna, ist die vertikale Mobilität: Also das Bachelor-Studium in einem Land und das Master-Studium in einem anderen Land zu machen. Das halte ich für die große Chance von Bologna.
Einige Regierungen haben aber gar kein großes Interesse an dieser vertikalen Mobilität: Denn es könnte sich ja herausstellen, dass die weiterführenden Studienangebote in anderen Ländern besser sind als im eigenen, vielleicht weil man sie dort nicht ausreichend finanziert. Dann plädiert man als Minister natürlich nur für die horizontale Mobilität und vergisst auf die vertikale, damit kein Wettbewerb zwischen Studiensystemen verschiedener Staaten entsteht.
Wie geht es nach dem Jubiläum mit dem Bologna-Prozess weiter, wo sehen sie die künftigen Knackpunkte?
Georg Winckler: Zum ersten müssen wir Profil und Inhalte des Bachelor verstärkt diskutieren. Im Master- und Doktoratsbereich besteht dazu weniger Bedarf. Zum zweiten müssen wir die Betreuungsrelationen verbessern, was nur indirekt mit Bologna zusammenhängt. Drittens brauchen wir mehr Kooperation zwischen den europäischen Unis, um v.a. die vertikale Mobilität sicherzustellen.
Unis werden im Zuge von Bologna auch immer mehr zu Konkurrenten, warum sollten sie überhaupt kooperieren, indem sie z.B. andere Abschlüsse anerkennen?
Georg Winckler: In der Vergangenheit haben die Unis weder kooperiert noch haben sie sich gegenseitig konkurriert. Heute wächst beides. Die Kooperation der Uni Wien mit der Uni Zürich und der Humboldt Uni Berlin war nie so gut wie jetzt, und das hängt damit zusammen, dass sich alle drei in Europa besser positionieren wollen. D.h. das ist kein Widerspruch: Konkurrenz impliziert auch mehr Kooperation.
Interview: Lukas Wieselberg, science.ORF.at
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