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Ein Sparschwein auf einem Taschenrechner, das einen Doktorhut auf dem Kopf trägt

Vom "geistigen Flanieren" zum Kostenfaktor

Bessere Vergleichbarkeit von Studien, mehr Mobilität und mit dem Bachelor ein neuer Studienabschluss, der Berufsbefähigung vermitteln soll: Das waren die Ziele des Bologna-Prozesses. Sie wurden alle nicht erreicht, meint der Philosoph Konrad Paul Liessmann anlässlich der Zehnjahres-Jubiläumskonferenz von Bologna diese Woche in Wien.

Studieren heute 10.03.2010

Liessmann vermisst die Möglichkeit wie früher, interessegeleitet und "flanierend" studieren zu können. Profitiert von Bologna hätten vor allem die Bürokratien, die Studenten als Kostenfaktoren berechnen, und Studierende, die gerne nach strikten Plänen studieren.

In einem science.ORF.at-Interview verrät Liessmann auch, wie er seinen eigenen Studienbeginn erlebt hat - und warum das heute in der Form nicht mehr möglich wäre.

science.ORF.at: Wie lautet Ihr Resümee nach zehn Jahren Bologna-Prozess?

Porträtfoto des Philosophen Konrad Paul Liessmann

APA - Helmut Fohringer

Konrad Paul Liessmann ist Professor für Philosophie und Vizedekan der Fakultät für Philosophie und Bildungswissenschaft an der Universität Wien. Als Studienprogrammleiter für Philosophie war er vier Jahre lang für die Bologna-Umsetzung in seinem Bereich zuständig.

Konrad Paul Liessmann: Die selbstgesteckten Ziele sind offenbar nicht erreicht worden. Den europäischen Hochschulraum gibt es nicht, die Mobilität der Studierenden ist entweder zurückgegangen oder wird – wie im Falle der deutschen Studenten in Österreich – mit Entsetzen beobachtet, die Vergleichbarkeit der Studien ist ein formalbürokratischer Nonsens, der die Konzeption sinnvoller Studienpläne blockiert, aber nichts erleichtert.

Und da der Bachelor am Arbeitsmarkt noch nicht angekommen ist und sehr viele weiterstudieren, haben sich insgesamt die Studienzeiten nicht wie erhofft verkürzt, sondern verlängert. Und um das zu erreichen, hat man in Gesamteuropa mit unglaublichem Aufwand über Jahrhunderte gewachsene Strukturen in wenigen Jahren zerschlagen.

Konkret eingeführt hat Bologna die ECTS-Punkte, die Studienleistungen international vergleichbar machen sollen. War diese Standardisierung nicht notwendig?

Konrad Paul Liessmann: Es war doch auch früher so, dass jemand nach einem Studium in Frankfurt, Paris oder Cambridge in Salzburg oder Graz weiterstudieren konnte. Natürlich sind diesen Studenten ihre Leistungen angerechnet worden: aber nach inhaltlichen Kriterien. Das ECTS-System misst nichts anderes als die vermeintliche durchschnittliche Arbeitszeit eines durchschnittlichen europäischen Studenten, egal was er studiert. Das ist eine Absurdität der Sonderklasse. Wenn ich heute Studien sinnvoll anrechnen möchte, muss ich das gleiche machen wie zuvor: Die Studenten fragen, was sie eigentlich gemacht haben.

Sie erwecken den Eindruck, dass Bologna die Vergleichbarkeit von Studien sogar eher reduziert hat?

Zehn Jahre Bologna-Prozess

Juni 1999 wurde die Bologna-Erklärung unterschrieben, für Österreich vom damaligen Wissenschaftsminister Caspar Einem. Am 11. und 12. März treffen sich 46 europäische Bildungsminister zur - etwas verspäteten - Zehnjahres-Jubiläums-Konferenz.

Die zentralen Punkte der Bologna-Erklärung:
- Schaffung eines europäischen Hochschulraums,
- Einrichtung eines vergleichbaren Leistungspunktesystems (ECTS),
- Förderung der Mobilität,
- europaweite Qualitätssicherung und
- ein neues System von Studienabschlüssen.

Konrad Paul Liessmann: Das ist auch die Realität. Gesamteuropäisch schwebt zwar das Phantasma der Anrechenbarkeit und Vergleichbarkeit irgendwo herum, de facto ist es aber schon unglaublich schwierig, von Klagenfurt nach Innsbruck zu wechseln. Das liegt daran, dass unter dem Druck der "Profilbildung" und "Autonomisierung" jede Studienrichtung ihre inhaltliche Akzentuierung ohne jede Koordination vorgenommen hat, bis hin zur inflationären Etablierung neuer, oft nur kurzlebiger Bachelorstudien, die es dann nur an wenigen, vielleicht gar nur an einer Universität gibt. Mittlerweile hat man verstanden, dass die rein formale Anrechnung nach ECTS nicht funktioniert. Will man seriös sein, muss man nicht nur Studienleistungen, sondern die konkreten Studienpläne vergleichen, und wenn diese inkompatibel sind, wird es schwierig.

Der Wunsch der Politik ist es, mehr Studierende in kürzerer Zeit auszubilden. War Bologna da nicht eine notwendige Reform?

Konrad Paul Liessmann: Ich würde mal die Kirche im Dorf lassen. Die Universitäten sind in Dauerreform, die uns alle als unbedingte Notwendigkeiten verkauft wurden. Das "Busek'sche Jahrhundert-Reformgesetz" von 1993 wurde in Wien 2000 implementiert. Es war genau zwei Jahre in Kraft, ehe das UG 2002 mit völlig neuen Strukturen und Studienplänen gekommen ist. Gleich darauf folgte Bologna, die wie keine Reform zuvor von oben oktroyiert wurde.

Innerhalb von zwei, drei Jahren mussten alle Studienrichtungen umgestellt werden: Gleichgültig ob vier- oder fünfjährige Diplomstudien, gleich ob natur- oder humanwissenschaftliche Studien, alle wurden in die neuen drei Phasen - drei Jahre Bachelor, zwei Jahre Master, drei Jahre Doktorat - geteilt. Es gab zum Teil keine Zeit, über die Frage nachzudenken, wie das inhaltlich sinnvoll geschehen soll.

Gerade der dreijährige Bachelor macht uns nun im internationalen Vergleich große Probleme, weil in vielen Ländern außerhalb Europa der vierjährige Bachelor, mit der Möglichkeit, ein Doktoratsstudium unmittelbar anzuschließen, üblich ist. Das alte Diplomstudium ist hier anschlussfähiger gewesen! Und insgesamt dürften sich die Studienzeiten nach Bologna eher verlängern.

Einige Studienrichtungen haben sich gegen den dreijährigen Bachelor ja mit Erfolg gewehrt ...

Radio-Hinweis

Dem Thema "Studieren heute - zehn Jahre nach Bologna" widmen sich auch die Ö1 Dimensionen: am Mittwoch, 10.3, 19.05 Uhr, Radio Österreich 1.

Konrad Paul Liessmann: Ja, die Mediziner etwa sagen wohl mit Recht, dass ein Bachelor nichts bringt: Da kommt höchstens ein Laborassistent heraus, von dem sich niemand operieren lassen würde. Bei den Juristen ist das ähnlich, auch die Psychologen haben sich bislang gewehrt, ebenso die Kunsthochschulen, wo die Protestbewegung ja entstanden ist, weil auch diese dem BA/MA-Modell unterworfen werden sollten.

Und als nächstes steht uns die Reform der Lehramtsstudien ins Haus. Wird diese, wie manche meinen, in der Weise durchgeführt, dass nach einem allgemeinen pädagogischen Bachelor nur mehr eine zweijährige Fachausbildung in einem Masterstudium folgt, dann würde das den endgültigen Ruin des Höheren Schulwesens bedeuten.

Warum, so frage ich mich, kann man Studiendauern nicht nach sinnvollen sachlichen Parametern festlegen? Es ist ja ein Unterschied, ob jemand z.B. Englisch in der Schule gelernt hat und dann Anglistik studiert, oder ob jemand eine Sprache studieren will, die er erst mit Beginn des Studiums kennenlernt, wie z.B. Japanisch, oder ob jemand ein Lehramt mit zwei Fächern studiert. Bologna aber bedeutet in Österreich: Gleichgültig, was jemand studiert, der Bachelor dauert drei Jahre.

Wenn Sie sich in Studierende von heute hineinversetzen: Was hat sich für sie im Vergleich zurzeit vor Bologna am meisten verändert?

Konrad Paul Liessmann: Dass sich zumindest das Grundstudium tatsächlich immer mehr einem Schulbetrieb angenähert hat. Akademische Freiheit ist nur noch am Rand zu finden. Wer heute zu studieren beginnt, bekommt einen klaren Stundenplan, er weiß, wo er wann zu sein hat, was er zu machen hat, die Wahlmöglichkeiten sind sehr begrenzt. Lehrveranstaltungen zu besuchen, die mit dem eigentlichen Studium vielleicht nur am Rande zu tun haben, aber interessieren, ist fast unmöglich geworden. Ein suchendes und flanierendes Studieren gibt es nicht mehr.

Verbirgt sich dahinter nicht ein bisschen die Sehnsucht nach der "guten alten Zeit"? Wie sind die Erinnerungen an Ihren eigenen Studienbeginn?

Konrad Paul Liessmann: Wenn alte Zeiten besser waren, warum darf man sich nicht danach sehnen? Das Neue ist nicht deshalb, weil es neu ist, immer auch schon das Bessere. Als ich zur Studienberatung gegangen bin, war ich frisch nach Wien gekommen und hatte keine Ahnung. Ich traf auf einen ältersemestrigen Studenten und fragte ihn: Womit soll ich beginnen? Seine Antwort: Es ist nicht so in der Philosophie, dass man mit irgendetwas beginnt, man kann mit allem beginnen. Mir hat das gefallen, ich bin dann gleich in eine Lehrveranstaltung gestolpert, in der ich nichts verstanden habe, das hat mich sicher ein Semester gekostet. Aber es war eine wertvolle Erfahrung – das "philosophische Staunen" -, die man heute so nicht mehr machen kann.

Wer heute mit einem Studium beginnt, muss sich als Input verstehen, dann als Kostenfaktor, dann als Output. Wenn er länger braucht, ist er eine Belastung für das System, die die Leistungsbilanz negativ beeinflusst. Und solch ein Denken hält man in Europa für einen Fortschritt.

Diese symbolische Ebene wirkt sich noch schlimmer aus als die rein administrativen Gegebenheiten: Studienpläne hat es immer gegeben, sie waren immer schon problematisch, wurden immer schon reformiert, und es ist trotzdem immer studiert worden. Heute jedoch wird nur noch gezählt und berechnet. Die Studenten fragen sich nicht, was sie interessiert, sondern als erstes lernen sie, wie sie zu ihren ECTS-Punkten kommen, welches Modul sie besuchen müssen, um in das nächste zu kommen und kein Semester zu verlieren: Dieser kleinkrämerische Geist erschüttert mich am meisten. Ich bekomme E-Mails von Studierenden, die mir schreiben, dass sie aus Interesse gerne in meine Vorlesung kämen, aber leider haben sie für den entsprechenden Studienplanpunkt schon ihre ECTS-Punkte und müssen deshalb darauf verzichten. Ich finde das traurig.

Können Sie Bologna gar nichts Positives abgewinnen?

Konrad Paul Liessmann: Wo viel Schatten, da muss doch auch ein Licht sein – oder? Vorab: Vieles, was unter "Bologna" läuft und zu kritisieren ist, hat mit Bologna wenig bis nichts zu tun: etwa die Modularisierung, die Vorstellung, die Unis seien Unternehmen, die gewinnorientiert arbeiten müssen, oder die schleichende Einführung von zwei Klassen von Hochschulen: Ausbildungsanstalten und Forschungsanstalten, das ganze Gerede von Exzellenz und Elite.

Abgesehen davon: Die strengere curriculare Ordnung hat sicher bessere Möglichkeiten der Leistungskontrolle mit sich gebracht. Die gegenwärtige Studentengeneration ist fleißiger als vergangene. Sie lesen und produzieren wirklich brav, hin und wieder schreiben sie aus dem Internet ab, aber dieses Problem hat sich mittlerweile entspannt. In meinem Bereich hat es früher viel öfter Debatten in den Lehrveranstaltungen gegeben hat, die mit den Seminarthemen gar nichts zu tun hatten.

Wenn jetzt nicht gerade eine Demonstration ist, und ein Aktivist höflich bittet, ob er fünf Minuten darüber sprechen darf, teilen alle das Interesse, mit dem Stoff weiterzukommen. Die Stimmung ist konzentriert, erfolgsorientiert. Ich schätze das, weil man wirklich gut arbeiten kann. Aber es fehlt ein bisschen das Widerständige und die Provokation, was auch zum Studieren gehört.

Auch diese Antwort klingt nicht sehr positiv: Wer hat Ihrer Ansicht nach von Bologna profitiert?

Konrad Paul Liessmann: Jene, die mit der Umsetzung des Prozesses beauftragt worden sind, keine Frage. Profitiert haben die Uni-Leitungen, die maßgeblich an Einfluss und Macht gewonnen haben, profitiert haben die Bürokratien, die Agenturen, die ständig messen, erheben, vergleichen, profitiert haben auch jene Studenten, die gerne klar konzipierte Richtlinien haben.

Ob die Wirtschaft davon profitieren wird, weil sie nun viele akademisch zumindest vorgebildete Bachelors für Maturantengehälter einstellen kann, weiß ich nicht zu sagen. Profitiert haben aber auch diejenigen, die nach dem Bachelor in qualifizierte Master- oder Doktorats-Programme hineinkommen, in denen sich die wissenschaftsorientierte Ausbildung wirklich verbessert hat.

Das Paradoxe: Bologna ist mit dem Leitziel der Berufsorientierung gestartet. Genau dort, wo man sich von diesem Ziel abgekoppelt hat, und die Unis das bieten, was sie immer gemacht haben - eine wissenschaftliche Berufsvorbildung bzw. weiterführende wissenschaftliche oder wissenschaftsorientierte Ausbildung -, dort sind nun die größten Erfolge zu verzeichnen.

Interview: Lukas Wieselberg, science.ORF.at

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