Dieser wechselseitige, produktive Dialog war das Thema einer internationalen Tagung, die vor kurzem in Marbach stattfand, veranstaltet vom Deutschen Literaturarchiv Marbach und der Universität Heidelberg.
Hermeneutik – die Kunst des Verstehens
Gadamer gilt als der Begründer der modernen philosophischen Hermeneutik. Ursprünglich verstand man unter Hermeneutik eine methodisch geschulte Interpretation von meist religiösen Texten; bei Gadamer ist die Hermeneutik eine Theorie des Verstehens und der Verständigung - "die Vollzugsform des menschlichen Soziallebens, das in letzter Formalisierung eine Gesprächsgemeinschaft ist".
Das menschliche Gespräch stellt für Gadamer die Grundlage für ein zivilisiertes Verhalten dar; im offenen Gespräch, das von keinen Regeln geleitet wird, können vorgegebene gesellschaftliche Stereotypien in Frage gestellt werden. Somit trägt das Gespräch zu einer Kultivierung der Kommunikationsgemeinschaft bei.

epa
Geboren wurde Hans-Georg Gadamer am 11. Februar 1900 in Marburg an der Lahn als Sohn einer gutbürgerlichen Familie. Er studierte Philosophie, Literaturwissenschaften und klassische Philologie in Breslau und Marburg bei Paul Natorp und Nicolai Hartmann. 1923 kam es zur ersten Begegnung mit dem Philosophen Martin Heidegger in Freiburg, die Gadamer entscheidend prägte. 1937 erhielt er eine Professur für Philosophie in Leipzig. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Gadamer zum Rektor der Leipziger Universität berufen, die er aufgrund der Konflikte mit kommunistischen Parteifunktionären 1947 verließ. Als Nachfolger von Karl Jaspers kam er 1948 nach Heidelberg, wo er bis zur Emeritierung 1968 lehrte. Dort entstand auch sein Hauptwerk "Wahrheit und Methode", das er 1960 publizierte. Nach der Emeritierung war Gadamer als begehrter Vortragender tätig, unternahm zahlreiche Reisen und lehrte an der Universität von Hamilton in Kanada. Er starb am 13. März 2002 in Heidelberg.
Kunstrezeption als Horizonterweiterung
Zu dieser universellen Gesprächsgemeinschaft zählen auch Maler und Schriftsteller. Sie tragen zur Horizonterweiterung der Rezipienten bei, wie Jean Grondin, Professor für Philosophie an der Université de Montréal und Autor einer umfassenden Biografie Gadamers im Gespräch mit science.ORF.at erläutert.
Jedes Kunstwerk bietet die Möglichkeit, dem Betrachter/dem Leser die Welt neu zu erschließen; "es hat einen umstürzenden Charakter". Das intensive Erleben eines Kunstwerks kann dazu beitragen, dass man die bisherige Lebenswelt in einem anderen Licht betrachtet. "Wer Kafka oder Brecht gelesen hat", so Grondin, "sieht plötzlich die Welt mit anderen Augen".
Spielerischer Charakter der Kunst
Das Kunstwerk erschließt dem Rezipienten eine neue Wahrheit oder gar eine neue Weltsicht. Grondin betont den spielerischen Charakter dieses Vorgangs. Im Spiel lösen sich die Subjekt-Objektfixierungen auf, die sonst das menschliche Handeln strukturieren. Das Subjekt steht nicht mehr einem Objekt gegenüber, sondern tritt in ein Geschehen ein, das es nicht mehr kontrollieren kann; das Subjekt wird zu einem Teilnehmer an einem Prozess, in dem es sich den Wirkungen des Kunstwerks aussetzt.
In dieser Kunsterfahrung dominiert nicht der rein ästhetische Genuss, sondern ein "ernsthaftes Sich-Einlassen auf das Kunstwerk", das in extremen Fällen auch die bisherige Lebensweise verändern kann, wie es in einem Gedicht von Rainer Maria Rilke gefordert wird.
Gadamer und Goethe
Einen exemplarischen Eindruck des produktiven Sich-Einlassens auf literarische Werke vermittelte der in Chicago lehrende Germanist David Wellbery am Beispiel von Gadamers Goethe-Lektüren. Vor allem beeindruckte ihn Goethes Bekenntnis: "Übrigens ist mir alles verhasst, was mich bloß belehrt, ohne meine Tätigkeit zu vermehren oder unmittelbar zu beleben".
Gadamer sieht darin eine Haltung, die ihn mit Friedrich Nietzsche verbindet. Indem Goethe vom literarischen Kunstwerk eine Intensitätssteigerung des eigenen Lebens erwartet, wird die rein ästhetische Dimension des Kunstwerks überschritten; "die Kunst greift in das menschliche Leben ein", konstatiert Wellbery.
Distanz zu philologischen Interpretationen
Gadamer hatte keineswegs den Anspruch, als Literaturwissenschaftler an die Texte der Schriftsteller heranzugehen. So verfolgte er in dem Buch "Wer bin ich und wer bist Du?" das Projekt, "ohne jede Information besonderer Art einen Zyklus Celanscher Gedichte auszulegen". Gadamer wandte sich gegen den Anspruch von Literaturwissenschaftlern wie Peter Szondi, die davon ausgingen, dass die Celan-Gedichte nur auf der Grundlage spezieller biografischer oder historischer Kenntnisse zu interpretieren seien.
Die Ablehnung einer übertriebenen philologischen Interpretation äußerte Gadamer auch gegenüber dem Philosophen Dieter Henrich, der das Gedicht "Andenken" von Friedrich Hölderlin durch genau topografische Angaben über die Gegend von Bordeaux, die im Gedicht erwähnt wird, erläutert. Er stelle sich die Frage, so schrieb Gadamer, "ob eine noch so zutreffende Rekonstruktion des damaligen Bordeaux für das Verständnis des Gedichts hilfreich sein kann?"
Erfahrung von Gedichten wichtiger als Interpretation
Hans-Georg Gadamer im Gespräch mit Jürgen Busche: "Zeugen des Jahrhunderts"
Im Gespräch mit science.ORF.at bestätigte der in Konstanz emeritierte Literaturwissenschaftler Karlheinz Stierle, der bei Gadamer studierte und mit ihm viele fruchtbare Diskussionen führte, dass sich Gadamer "von den unterschiedlichen Technizismen des literaturwissenschaftlichen Umgangs mit poetischen Gebilden" fernhielt.
Er befürchtete, dass die Methoden der Literaturwissenschaft ein Interpretationsraster ausbilden könnten, die zu einer Verengung des literarischen Textes beitragen würden. Jeder Versuch einer methodischen Interpretation eines Textes war für Gadamer ein Irrweg. "Eine Interpretation ist nur dann richtig, notierte er, " wenn sie am Ende ganz zu verschwinden vermag, weil sie ganz in eine neue Erfahrung des Gedichts eingegangen ist".
Die Forschungsgruppe "Poetik und Hermeneutik"
Diese Distanz zu den verschiedenen Methoden der Literaturwissenschaft prägte auch das Verhältnis zwischen Gadamer und der interdisziplinären Forschungsgruppe "Poetik und Hermeneutik", der auch Karlheinz Stierle angehörte. Es war dies eine Gruppe von Philosophen wie Hans Blumenberg und Dieter Henrich, Literaturwissenschaftler wie Hans Robert Jauß, Rainer Warning oder Wolfgang Iser, die zwischen 1963 und 1994 über kunsttheoretische oder philosophische Fragen diskutierte und die Ergebnisse in insgesamt 17 Tagungsbänden veröffentlichte.
Die Grundintention der Gruppe bestand darin, so Karlheinz Stierle, "jede Verstehensmöglichkeit zu ergreifen, die sich in der zeitgenössischen Literaturtheorie anbot, um ein adäquates Verständnis der modernen Literatur zu erzielen".
Literaturhinweise:
Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, J.C.B. Mohr/Paul Siebeck Verlag
Ästhetik und Poetik I, Kunst als Aussage, Gesammelte Werke, Band 8, J.C.B. Mohr/Paul Siebeck Verlag
Ästhetik und Poetik II, Hermeneutik im Vollzug, J.C.B. Mohr/Paul Siebeck Verlag
Jean Grondin: Hans-Georg Gadamer. Eine Biographie, J.C.B. Mohr/Paul Siebeck Verlag Hermeneutik, UTB Verlag
Poetik und Hermeneutik, Das Ende. Figuren einer Denkform, Band 16, Herausgegeben von Karlheinz Stierle und Rainer Warning, Fink Verlag
"Der Andere könnte auch Recht haben"
Obwohl Gadamer mit einigen Themen ("Das Spiel", Das Fest"), die er in seinem 1960 publiziertem Hauptwerk "Wahrheit und Methode" erläutert hatte, Diskussionsgrundlagen für die Gruppe "Poetik und Hermeneutik" vorgelegt hatte, stand er laut Stierle ihren Forschungsgrundlagen mit einer gewissen Reserviertheit gegenüber. Er wurde niemals zu Tagungen eingeladen und legte auch keinen Wert darauf. Das hinderte ihn jedoch nicht daran, in einem freundschaftlichen Verhältnis zu einzelnen Gruppenmitgliedern zu stehen.
So erinnerte sich etwa der Philosoph Dieter Henrich daran, dass sich seine Gespräche mit Gadamer durch die "Qualität des gegenseitigen Hinhörens" auszeichneten und an die Form der platonischen Dialoge anknüpften; "die Besserwisserei des Sokrates blieb jedoch ausgespart". Ein Grundsatz prägte das Gespräch, den Gadamer auch für die Interpretation von literarischen Texten anwandte, nämlich, "dass der Andere auch Recht haben könnte".
Nikolaus Halmer, Ö1 Wissenschaft
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