Oft hatten sie es in der neuen Heimat als Vertreterinnen von gleich drei nicht gerade bevorzugten Bevölkerungsgruppen - Frauen, Migrantinnen und Jüdinnen - nicht leicht. Speziell in einem Bereich, der in Europa noch gar nicht akademisch verankert war, engagierten sie sich aber erfolgreich: in der Sozialarbeit.
Diesem nahezu vergessenen Thema der Wissenschaftsgeschichte widmet sich die Soziologin Barbara Reiterer von der University of Minnesota. Bei den Zeitgeschichtetagen der Universität Wien hat sie diese Woche einen Ausschnitt ihrer Arbeit präsentiert.
Viele unbekannte Schicksale
Zeitgeschichtetage in Wien
Die Zeitgeschichtetage der Universität Wien standen heuer unter dem programmatischen Titel "Update!". Durch ein neues aufwändiges Begutachtungsverfahren wurden Einreichungen ausländischer Forscher, von Jungwissenschaftlern und Frauen bevorzugt angenommen. Die Schwerpunkte lagen u.a. auf internationalen Themen (Osteuropa, Afrika etc.), viele der rund 120 Vorträge behandelten zudem die Forschung zu Nationalsozialismus und Geschichtspolitik.
"Wenn man zur Geschichte von Frauen in der Wissenschaft forscht, besteht das Hauptproblem darin, dass es zwar sehr viele gibt, man aber nur die wenigsten kennt," sagt Barbara Reiterer gegenüber science.ORF.at. Die Suche nach den Einzelschicksalen und den entsprechenden Quellen stellt deswegen einen Hauptteil ihrer Arbeit dar. "Die US-Wissenschaftshistorikerin Margaret Rossiter hat 1982 das bis heute maßgebende Buch ("Women scientists in America: struggles and strategies to 1940") zu dem Thema veröffentlicht. Dafür hat sie zehn Jahre recherchiert", so Reiterer.
Ihre eigene Fragestellung ist enger und soll deshalb in zwei bis drei Jahren beantwortet werden: Sie untersucht, wie Ende der 1930er, Anfang der 1940er Jahre von den Nazis vertriebene, intellektuelle Frauen im akademischen Umfeld der USA untergekommen sind, auf welche Schwierigkeiten sie gestoßen sind und welche individuellen Strategien des Umgangs sie damit verfolgt haben.
Erklärung von "Erfolglosigkeit"
Der Grazer Soziologe Christian Fleck hat dazu viel Vorarbeit geleistet. In seinem Buch "Transatlantische Bereicherungen" hat er etwa gezeigt, welchen Beitrag die vor allem deutschsprachigen Migranten zur "Erfindung" der empirischen Sozialforschung in den USA geleistet haben.
"Von Fleck kann ich viele Eckdaten der Biographien übernehmen. Er hat sich aber in den detaillierten Darstellungen vorwiegend auf die bekannten und 'erfolgreichen' Wissenschaftler konzentriert", so Reiterer. Unter diesen Erfolgreichen befanden sich auch einige Frauen wie Suzanne Keller, Edith Kurzweil und Marie Jahoda. "Mich interessiert als Historikerin aber vor allem, warum viele ihrer Kolleginnen gemessen an den akademischen Kriterien nicht so erfolgreich waren und warum die Nachwelt dementsprechend wenig über sie weiß."
Gleich dreifach benachteiligt
Projekt zum "transatlantischen Blick
Die Soziologin Barbara Reiterer vom Program in the History of Science der University of Minnesota wird ab Herbst im Rahmen des Projekts "Der transatlantische Blick" des
Deutschen Historisches Instituts arbeiten. Darin werden die Erfahrungen von zentral-europäischen Migranten und Migrantinnen in Amerika untersucht.
Soweit sie das bisher einschätzen kann, liegt das an einer Kombination von Ursachen. "Sie hatten in dreifacher Hinsicht keinen leichten Stand: Erstens waren sie Migrantinnen und machten ansässigen Forschern Konkurrenz. Zweitens waren sie Frauen - zumeist mussten sie sich um die eigenen Kinder und den Haushalt kümmern, bevor sie an die akademische Karriere denken konnten. Drittens waren sie Jüdinnen, und auch wenn man in den USA nicht gerne darüber spricht, es gab auch hier nicht wenig Antisemitismus", erzählt Reiterer.
Auch die Wahl der konkreten Studiendisziplin trug nicht zum - für die Nachwelt sichtbaren - Erfolg der Wissenschaftlerinnen bei. "Social work" war ein Bereich, in dem bereits viele Frauen arbeiteten, ganz im Gegensatz zu anderen Disziplinen an den prinzipiell männlich dominierten Universitäten. Der Sozialarbeit mangelte an Prestige, sie galt im Vergleich zur Soziologie als "weiche Disziplin". Dennoch konnten die Wissenschaftlerinnen hier akademisch tätig sein und zugleich ihre aus Europa mitgenommenen sozialreformerischen Ideen mit Elan umsetzen.
Viele der von Reiterer bisher identifizierten USA-Migrantinnen in der Sozialwissenschaft haben davor, Ende der 1920er Jahre, unter Charlotte Bühler am Psychologieinstitut in Wien studiert. Bühler war Teil des sozialreformerisch und sozialdemokratisch geprägten Kreises, zu dem auch die Autoren der wegweisenden Sozialstudie "Die Arbeitslosen von Marienthal" - Paul Lazarsfeld und Marie Jahoda - gehörten.
Sozialarbeit bereits 1910 akademisch
Mit "social work" wählten die Migrantinnen in den USA oft eine Disziplin, die in ihren Herkunftsländern erst Jahrzehnte später zu universitären Ehren kommen sollte. Sozialarbeit wurde in Österreich traditionellerweise auf eigenen Sozialakademien, erst seit Anfang 2000 an Fachhochschulen unterrichtet. In den USA war das anders.
"Sozialarbeit hat sich dort gemeinsam mit Soziologie und anderen Sozialwissenschaften entwickelt. Die gemeinsame Wurzel lag in den Reformbewegungen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als sich die Sozialwissenschaftler mit den ökonomischen und sozialen Problemen nach dem amerikanischen Bürgerkrieg beschäftigt haben", erklärt Reiterer.
Eine erste Vereinigung von Sozialwissenschaftlern wurde bereits 1865 gegründet, das erste Soziologieinstitut 1892 in Chicago eröffnet. Die verschiedenen Disziplinen begannen sich auszudifferenzieren. Sozialarbeit war bereits ab den 1910er Jahren ein Fach, das man mit einem Bachelor- oder Mastertitel, später auch mit einem Doktorat, abschließen konnte. Und es bot die Möglichkeit an einer Universität in der Lehre und Forschung tätig zu sein - das war das Beste, was viele der Wissenschaftlerinnen aus ihrer Situation machen konnten.
Lukas Wieselberg, science.ORF.at
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