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Teilansicht des Sternennebels NGC 3603

"Die Grenzen der Wissenschaft sind erreicht"

Der südafrikanische Physiker und Mathematiker George Ellis sucht nach einer umfassenden Beschreibung des Universums. In einem Interview beschreibt er die größten Baustellen im kosmologischen Theoriengebäude: die "körnige" Raumzeit und die Dunkle Seite der Energie.

Kosmos 06.07.2010

science.ORF.at: Ist die physikalische Beschreibung des Universums vollständig?

George Ellis: Ich glaube, sie ist annähernd vollständig. Unsere Situation ist ein bisschen wie bei der Erkundung der Erde. Wir kennen die wesentlichen Bereiche, aber die Details kann man natürlich vertiefen. Letztes Jahrhundert hatten wir im Universum Daten im Bereich sichtbaren Lichts zu Verfügung, heute kommen Radio- , Röntgen-, Gammastrahlen und viele andere Bereiche hinzu.

Bis zum Beobachtungshorizont, das ist Grenze, bis zu der man im Universum prinzipiell etwas beobachten kann, haben wir die wesentlichen Dinge gesehen. Jetzt brauchen wir die Feinstruktur, die Details fehlen noch. Jenseits des beobachtbaren Teils des Universums gibt es natürlich Vieles, das wir nie sehen werden.

In theoretischer Hinsicht sieht es aber anders aus.

Physiker George Ellis

George Ellis

George Ellis ist em. Professor für komplexe Systeme am Department für Mathematik der University of Capetown in Südafrika. Für seine Forschungen erhielt er 2004 den Templeton-Preis.

Ellies hielt kürzlich am Wiener Erwin-Schrödinger-Institut einen Vortrag über das "kristallisierende Blockuniversum" - eine Theorie, die den reversiblen und den irreversiblen Zeitbegriff der Physik zusammenführt.

Die dahinter stehende Theorie ist eine Gravitationstheorie. Für klassische Fälle haben wir eine sehr gute, nämlich jene von Einstein. Aber um den Beginn des Universums zu beschreiben, braucht man die sogenannte Quantengravitation - das ist eines der großen ungelösten Probleme der theoretischen Physik. Im Mikrokosmos, dem Bereich der Quanten, gibt es also noch sehr viel zu lernen.

Wir haben einige interessante Theorien zur Hand, die die Verbindung des Großen und Kleinen schaffen könnten - die Schleifenquantengravitation und die Stringtheorie etwa. Aber wir wissen nicht, welche die richtige ist.

Was glauben Sie?

Ich glaube, eine Theorie der Quantengravitation muss der Raumzeit eine "körnige" Struktur geben, sie müsste aus kleinsten diskreten Bausteinen aufgebaut sein. Wir Physiker sagen dazu: Alles ist quantisiert, auch die Raumzeit. Die meisten heute verfügbaren Theorien gehen aber von einer kontinuierlichen Struktur aus.

Haben Sie von der Idee gehört, dass die Gravitation gar keine Naturkraft wie die beiden Kernkräfte und der Elektromagnetismus sein soll? Die Gravitation wäre demnach ein emergentes Phänomen, wie etwa die Temperatur.

Ja, ich habe davon gehört. Aber ich habe nicht wirklich verstanden, woraus Gravitation "emergieren" soll. Ich habe mit Leuten gesprochen, die sich damit beschäftigen, und sie haben Analogien zur Thermodynamik gezogen. Wenngleich mir nicht klar ist, in welcher "Arena" die Thermodynamik hier agiert. Aber wir müssen alle Ideen ausprobieren, die wir zur Verfügung haben. Auch diese.

Ist die Kosmologie in den letzten Jahrzehnten zu dogmatisch geworden?

Ich glaube, dass einige meiner Kollegen sehr dogmatisch sind (lacht)!

Es scheint so, als würden einander Reichweite und Prüfbarkeit von Theorien teilweise ausschließen. Je mehr Bereiche der Natur sie vereinen, desto schwieriger wird es, sie experimentell zu testen.

Dieses Problem hat jede Theorie der Quantengravitation, weil es dabei um Energiebeträge geht, die weit jenseits dessen liegen, was wir mit irdischen Teilchenbeschleunigern erreichen können. Als mögliche Testfelder kommen daher nur das frühe Universum oder Schwarze Löcher infrage. Solche Tests sind notgedrungen sehr indirekt.

"Möglicherweise werden wir nie entscheiden können, welche Theorie die beste ist."

Mein Kollege Bill McCray hat einmal gesagt, dass wir auf ein kosmologisches Unbestimmtheitsprinzip zusteuern. Ich glaube, er hatte recht. Möglicherweise werden wir nie entscheiden können, welche Theorie die beste ist.

Aus Sicht eines klassischen Empiristen: Die ganz großen Theorien hausen im Vakuum.

Ja, die Grenzen der empirischen Wissenschaft sind erreicht. Wir müssen unsere Entscheidungen nun auf philosophischer Basis treffen. Das ist an sich kein Problem, solange man erklärt, was man tut.

Eine andere große Unbekannte im Universum ist die Dunkle Energie. Was ist sie - und woher kommt sie?

Wenn man weit entfernte Galaxien betrachtet, kann man mit Hilfe von Supernovae die Entfernung sehr genau feststellen. Das ist eine der großen Entdeckungen der letzten 20 Jahre. Aus diesen Messungen weiß man, dass sich die Ausdehnung des Universums beschleunigt. Es muss also eine Anti-Gravitationskraft geben. Das ist die Dunkle Energie. Woher sie kommt? Nun, sie stammt von astronomischen Beobachtungen ab.

Woher sie im physikalischen Sinn kommt, wissen wir nicht. Wir haben keine Ahnung. Es gibt aber eine Alternative. Es könnte nämlich sein, dass es die Anti-Gravitationskraft gar nicht gibt und stattdessen der Raum anders ist, als wir glauben. Im kosmologischen Standardmodell geht man nämlich davon aus, dass er überall gleich beschaffen, dass er "homogen" ist. Vielleicht ist er das gar nicht. Kollegen von mir überprüfen zur Zeit, wie weit man mit dieser Annahme kommt.

Bei der Dunklen Materie weiß man ebenfalls nicht, woraus sie besteht.

Ja, aber die Dunkle Materie ist viel besser in die gegenwärtige Physik integriert. Da haben wir konkrete Vorstellungen, was die Bestandteile sehen könnten. Und viele Konzepte kann man auch in Teilchenbeschleunigern überprüfen. Bei der Dunklen Energie ist das nicht der Fall.

Aber auch die Dunkle Materie könnte ein Artefakt sein.

Ja, falls unsere Gravitationstheorie falsch ist. Das ist eine Option.

Dunkle Energie und Dunkle Materie haben einen Schönheitsfehler: Sie sind beide Ad-hoc-Lösungen, sie stammen nicht aus einer umfassenden Theorie, sondern wurden erfunden, um Unstimmigkeiten zu erklären. Sie sind da, um Löcher zu stopfen.

Das Problem ist: Wenn man sowohl der Gravitationstheorie als auch den Messungen glaubt, besteht ein Widerspruch. So genannte Gravitationslinsen sind zum Beispiel eine sehr gute Möglichkeit, um die Existenz der Dunklen Materie zu überprüfen. Die bisherigen Messungen weisen darauf hin, dass es sie wirklich gibt. Dunkle Materie und Energie sind zwar beide Ad-hoc-Lösungen, aber das gilt in viel stärkerem Maße für die Dunkle Energie.

Interview: Robert Czepel

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