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"Hier sind zu viele, nicht in Bangladesch"

Die Zahl der Menschen auf der Erde wächst nach wie vor – aber immer langsamer. Ende dieses Jahrhunderts wird die Weltbevölkerung wahrscheinlich sogar zu schrumpfen beginnen. Die Angst vor einer zu rasch wachsenden Weltbevölkerung scheint heute nicht mehr berechtigt.

Demographie 23.06.2010

Umweltprobleme und Ressourcenknappheit entstehen primär nicht durch eine große Zahl von Erdenbürgern, sondern durch den besonders ressourcenintensiven Lebensstil der wohlhabendsten 25 Prozent der Menschheit, sagt der Bevölkerungswissenschaftler Rainer Münz im Interview für science.ORF.at. Statt sich um die Zahl der Menschen Sorgen zu machen, könnte man auch auf den Rindsbraten am Sonntag oder auf die nächste Flugreise verzichten.

science.ORF.at: Wie hat sich das Wachstum der Weltbevölkerung in den letzten Jahrzehnten verändert?

Rainer Münz: Die Zuwachsrate war in den 1960er-Jahren am höchsten, der absolute Zuwachs Anfang der 1990er-Jahre. Die Zuwächse werden seither kleiner, aber die Weltbevölkerung wächst noch immer um rund 78 Millionen Menschen pro Jahr.

Die Zeit des exponentiellen Bevölkerungswachstums ist also vorbei?

Porträt Rainer Münz

Forum für Verantwortung

Der Bevölkerungswissenschaftler Rainer Münz leitet die Abteilung "Forschung & Entwicklung" der Erste Bank in Wien und ist Senior Research Fellow am Hamburgischen Weltwirtschafts-Institut (HWWI). Er war Direktor des Instituts für Demographie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und Professor an mehreren Universitäten. Von Oktober 2008 bis Juni 2010 war Rainer Münz Mitglied im "Rat der Weisen" der Europäischen Union. Darüber hinaus ist Münz Mitglied mehrerer wissenschaftlicher Beiräte und Aufsichtsgremien.

Cover des Buches "Wie schnell wächst die Zahl der Menschen"

Fischer Verlage

Gemeinsam mit dem Politikwissenschaftler Albert F. Reiterer hat Münz das Buch „Wie schnell wächst die Zahl der Menschen. Weltbevölkerung und weltweite Migration“ geschrieben, das im Rahmen einer Buchreihe zur Zukunft der Erde im Fischer Verlag erschienen ist.

Am 24. Juni spricht Rainer Münz an der Akademie der Wissenschaften in Wien im Rahmen der Vortragsreihe „Mut zur Nachhaltigkeit“.

Programm zur Vortragsreihe

Weitere Interviews mit Referentinnen und Referenten der Vortragsreihe auf science.ORF.at:

Veranstalter der Vortragsreihe ist das Zentrum für Globalen Wandel und Nachhaltigkeit der Universität für Bodenkultur in Kooperation mit der Initiative Risiko:dialog von Umweltbundesamt und Ö1 sowie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und der deutschen Stiftung Forum für Verantwortung.

Die Phase des exponentiellen Wachstums ist vorbei. Die Zahl der Kinder pro Familie sinkt weltweit und liegt heute bei etwa 2,8. Es gibt aber immer noch viele Geburten, da in den letzten Jahrzehnten viele Menschen auf die Welt kamen. Deshalb gibt es heute und in naher Zukunft mehr potentielle Eltern als früher. Es dauert eine Weile, bis die niedrigere Kinderzahl pro Familie zu einer Stabilisierung der Weltbevölkerung führt.

Es kommen immer noch wesentlich mehr Menschen auf die Welt als sterben. Dieses Ungleichgewicht wird allerdings kleiner. In 30 bis 50 Jahren wird es dann erheblich mehr Sterbefälle geben, wenn die heute 20- bis 40-Jährigen ins höhere Alter kommen.

Welche Rolle spielt Armut für das Bevölkerungswachstum?

In traditionellen Agrargesellschaften spielten eigene Kinder als Familienarbeitskräfte und als “Vorsorge“ für Alter, Krankheit und Verlust der Arbeitskraft eine zentrale Rolle, weil es in diesen Gesellschaften weder Arbeitsmärkte noch sozialen Sicherungssysteme gab. Da die Kindersterblichkeit hoch war, bekamen die Menschen überdies mehr Kinder, als sie eigentlich wollten.

Gesellschaftliche Modernisierung und gesündere Lebensverhältnisse senkten die Säuglings- und Kindersterblichkeit. In urbanen Ökonomien gilt überdies, dass zwei gut qualifizierte Kinder von größerem Nutzen sind als viele schlecht ausgebildete. Damit verschwindet das Motiv, viele Kinder in die Welt zu setzen. Für Menschen in Arbeiter- und Angestelltenpositionen gilt überdies: Ihr Einkommen hängt nicht mehr von der Zahl eigener Kinder ab. Diese können für Frauen zum Hindernis für eine berufliche Karriere werden. Gerade für Frauen bedeutet eine bessere Ausbildung auch spätere Heirat, spätere Familienbildung, ein Hinausschieben der ersten Geburt und insgesamt weniger Kinder.

Wie es bei uns zum Beispiel der Fall ist.

Bei uns spielen auch soziale Sicherheitssysteme eine Rolle. Unsere Pensionen werden nicht von den eigenen Kindern erwirtschaftet, sondern von allen Erwerbstätigen. Für uns reicht es daher aus, wenn andere Leute Kinder bekommen. Das wird erst zum Problem, wenn alle so denken.

Gibt es Schätzungen, wie viele Menschen auf der Erde leben könnten?

Es wurden schon alle möglichen Zahlen genannt. Im Jahr 1960, als Armut und Unterernährung weiter verbreitet waren, hätte man die sieben Milliarden Menschen von heute wahrscheinlich mit großen Hungersnöten und Massenflucht aus ärmeren in reichere Regionen assoziiert.

Stimmt es optimistisch für die Welt im Jahr 2050, dass es nicht so schlimm gekommen ist wie befürchtet?

Wir sind jedenfalls in der Lage, mehr Menschen zu ernähren, als wir 1950 dachten. Trotzdem bleibt es eine globale Aufgabe, die Lebensverhältnisse jener Menschen zu verbessern, die heute mit ganz wenig Ressourcen auskommen müssen, nicht genug zu essen und keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser haben.

Trotzdem versuchen Länder, das Bevölkerungswachstum zu bremsen.

Einerseits gibt es viele Länder, die gezielt Aufklärung, Geburtenkontrolle und die reproduktive Gesundheit von Frauen fördern – auch mit der Erwartung, dass dadurch die Geburtenzahlen sinken. Andererseits gibt es Länder mit pro-aktiver Bevölkerungs- und Familienpolitik. Im aktuellen Familienbericht der Bundesregierung wird diskutiert, wie Wirtschaft und Politik dazu beitragen können, dass Frauen in Österreich mehr Kinder bekommen.

International gilt, dass Erwachsene so viele Kinder bekommen sollen, wie sie möchten. Dieser Grundsatz wurde auf mehreren UN-Bevölkerungskonferenzen verankert.

Wie steuern Staaten die Zahl der Geburten?

Das Ziel, Bevölkerungswachstum zu bremsen, kann nur in einem größeren politischen und sozioökonomischen Kontext funktionieren. Außerdem ist es meist nicht das einzige Ziel. Wenn in Brasiliens Behörden Kondome gratis verteilen, soll damit auch die Ausbreitung von HIV verhindert werden. Selbst Chinas Ein-Kind-Politik, die mit eher drakonischen Maßnahmen einhergeht, zielt in erster Linie auf die Verhinderung von Hungersnöten.

Maßnahmen zur Beeinflussung der Kinderzahl funktionieren vor allem dann, wenn Menschen ein vernünftiges Motiv haben, die eigene Kinderzahl einzuschränken – oder zu vergrößern. Ich sehe jedoch nicht, dass die Beeinflussung des Bevölkerungswachstums heute bei vielen Regierungen noch weit vorne auf der Agenda steht.

Ist das Wachstum der Weltbevölkerung ein Problem für Ressourcenknappheit in der Zukunft?

Laut dem „Bericht zur Lage der Weltbevölkerung 2009“ (PDF) des Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen (UNFPA) könnten im Jahr 2050 zwischen acht und 10,5 Millionen Menschen auf der Erde leben.

Weitere Informationen zum Thema Weltbevölkerung findet man auf den Internetseiten der Weltbevölkerungsabteilung der Vereinten Nationen, deren Population Information Network und des Weltbevölkerungsprogramms des Internationalen Instituts für Angewandte Systemanalyse in Laxenburg.

Bevölkerungswachstum war in der Vergangenheit meist nicht der Grund für gesellschaftlichen Mangel. Ressourcenknappheit entsteht nicht in erster Linie durch die wachsende Zahl der Menschen in Bangladesch oder in Mali, sondern durch unseren Lebensstil. Heute konsumieren 20 Prozent der Weltbevölkerung etwa 80 Prozent der Menge an nicht erneuerbaren Energien. Dafür kann man nicht das Bevölkerungswachstum in Afrika oder Südasien verantwortlich machen.

Menschen hungern nicht, weil weltweit zu wenig Nahrungsmittel hergestellt würden, sondern weil es ein Verteilungsproblem gibt. Arme können sich vorhandene Grundnahrungsmittel oft nicht leisten. Und die Frage, wie viele Menschen unser Planet ernähren kann, hängt auch von der Art der Ernährung ab: pflanzliche Nahrungsmittel reichten für viel mehr Menschen als Fisch und Fleisch.

Bevölkerungswachstum ist also – neben zum Beispiel knappem Trinkwasser oder dem Klimawandel – nicht eines der Probleme für die Nachhaltigkeit auf der Welt?

Das zentrale Dilemma ist: Wir können nicht allen Menschen den Lebensstandard der USA oder Österreichs ermöglichen. Dazu reichen die Ressourcen des Planeten nicht aus. Aber dieses ökologische Dilemma wird nicht durch eine wachsende Zahl der Menschen in Afrika größer, sondern durch die wachsende Zahl derer, die sich mehr Ressourcen leisten können und wollen. Ein Mexikaner, der nach Kalifornien einwandert, oder eine Marokkanerin, die nach Spanien kommt, verbrauchen früher oder später 10-mal so viel Ressourcen wie jene, die in ländlichen Regionen Mexikos oder Marokkos bleiben. Daher gibt es Umweltorganisationen wie den Sierra Club in den USA, die aus ökologischen Gründen gegen Einwanderung sind.

Ich kenne nicht viele Orte auf der Welt, wo Armut und Unterentwicklung durch das Bevölkerungswachstum entstanden sind. Aus Sicht des ökologischen Fußabdrucks sind nicht die Menschen in Bangladesch „zu viele“, sondern wir. Das wird meiner Meinung nach in der Debatte häufig übersehen. Verschwenderischer Umgang mit Ressourcen besteht ja gerade in Teilen der Welt, wo die Bevölkerung nicht mehr wächst; zum Beispiel Japan oder in Europa.

Aber beliebig wachsen könnte die Weltbevölkerung auch nicht?

Solange die Weltbevölkerung exponentiell wuchs, musste man sich darum Sorgen machen. In den 200 Jahren seit dem Jahr 1800 stieg die Zahl der Menschen auf unserem Planeten von einer Milliarde auf sieben Milliarden. Diese Menschen sind heute im Schnitt besser ernährt, besser gebildet und leben wesentlich länger als im Jahr 1800. Jetzt müssen wir fragen: Wie schaffen wir es, Mitte des 21. Jahrhunderts auch neun Milliarden Menschen ein akzeptables Leben zu bieten. In Europa werden wir dann schon mit einer schrumpfenden Bevölkerung konfrontiert sein.

Wir sollten die Bevölkerungsentwicklung in weniger entwickelten Ländern nicht zur Hauptursache der großen ökologischen Probleme ausrufen. Das ist eine Form, von der Verantwortung der Wohlhabenden abzulenken. Wir in Europa haben kein Bevölkerungswachstum, gehören aber zu den 20 Prozent der Weltbevölkerung, die 80 Prozent der Ressourcen für sich in Anspruch nehmen. Die Frage ist also: Sind wir bereit, diese Ressourcen mit anderen zu teilen. Aus ökologischer Sicht könnte das bedeuten, auf den Rindsbraten, die nächste Flugreise oder einen Zweitwohnsitz zu verzichten.

Mark Hammer, science.ORF.at

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