Utopien waren für Bloch vor allem Motive, die das persönliche Handeln anleiten. Auf keinen Fall aber konkrete Pläne, die es nur umzusetzen gelte, betont der Philosoph Burghart Schmidt anlässlich des heutigen 125. Geburtstags Blochs in einem science.ORF.at-Interview. Schmidt war ein Schüler, langjähriger Mitarbeiter und Herausgeber der Werke Blochs.
science.ORF.at: Was fällt Ihnen heute als erstes ein, wenn Sie an Ernst Bloch denken?
Ö1-Sendungshinweis
Dem 125. Geburtstag von Ernst Bloch widmet sich auch ein Beitrag in Ö1 Wissen aktuell: Donnerstag, 8. Juli, 13.55 Uhr, Radio Österreich1.
Burghart Schmidt: Als erstes sehe ich den großen Redner Bloch, dem es gelang, seine Zuhörer zu packen, zwischen schwierigsten theoretischen Überlegungen und treffsicheren Erzählungen. Was sein Werk betrifft, fällt mir zuerst das Buch "Atheismus im Christentum" ein, weil mir das Theologische zunächst viel fremder lag als Bloch. Dann selbstverständlich die beiden Bücher, die mich am meisten beeinflusst haben: die "Spuren", das große Erzählwerk mit philosophischem Tiefgang, und "Erbschaft dieser Zeit" zur Weimarer Republik und Nazizeit.
Bloch hat vieles zur Nazizeit geschrieben, auch das "Prinzip Hoffnung," eine Zeit, die für viele Hoffnungslosigkeit bedeutet hat. Woher hat er seine eigene Hoffnung und Stärke bezogen?
Burghart Schmidt

Burghart Schmidt
Burghart Schmidt ist Professor für Sprache und Ästhetik an der Hochschule für Gestaltung Offenbach am Main, Gastprofessor an der Universität für angewandte Kunst Wien, Gastdozent am International Centre for Culture and Management (ICCM) Salzburg und Ehrenpräsident der Ernst-Bloch-Gesellschaft.
Er hatte einen sehr optimistischen Charakter, hat vor allem das Positive gesehen, auch wenn etwas gescheitert ist. Dazu kam eine natürliche Selbstsicherheit, die keine Eitelkeiten von Intellektuellen und Professoren kannte. Es war auch sehr angenehm, dass man Blochs Worte im persönlichen Umgang nicht auf die Goldwaage legen musste. Man musste auch nicht heucheln, dass man von ihm besonders viel gelesen hätte. Bloch war da sehr selbstsicher. Manche beklagten allerdings, dass er nicht viel Sinn für das Biografisch-Private der Anderen hatte. Er hat da auch viel vergessen, es ging ihm immer um das Denken der Anderen, da war seine Erinnerung bis ins hohe Alter sehr gut.
Wären ihm biografische Fragen überhaupt recht gewesen?
Er war diesbezüglich distanziert, aber nicht 100-prozentig. Bloch war kein Prinzipienreiter, obwohl er Philosoph war und sein Hauptwerk "Das Prinzip Hoffnung" hieß. Er hat nur einmal nach dem Tod seiner ersten Frau 1921 zwei Jahre lang Tagebuch geschrieben, weil ihn das Ereignis sehr erschüttert hat. Als viel später die erste Biografie bei Rowohlt erschienen ist, hat er gerne Auskunft über seine Kindheit und Jugend in Ludwigshafen gegeben. Biografisches war ihm aber nicht wichtig, sodass man sagen kann: Selbst wenn Bloch jünger gewesen wäre und nicht noch so viele Werke unveröffentlicht im Schrank gelegen hätten, er hätte die Welle der Autobiografien ab den 1970er Jahren nicht mitgemacht.
Ein Zitat von Bloch lautet: "Konkrete Utopie richtet die miserable Faktizität". Was kann heute das Konkrete an Utopien sein?
Die Utopie wurde in den 1990er Jahren mit der Selbstauflösung des Ostblocks natürlich erschüttert, untergegangen ist sie aber nicht. Ich habe schon damals gehöhnt, dass man zur Begründung ihres vermeintlichen Untergangs ausgerechnet die Selbstauflösung des schärfsten anti-utopischen Systems nimmt, das die Menschheitsgeschichte gekannt hat: Im Ostblock wurden Leute mit der Begründung "utopische Abweichung" ins Gefängnis oder in die Psychiatrie geschickt. Mit Utopie hatte man da nichts am Hut.
Was bedeutete Utopie für Bloch?
Biografie Ernst Bloch
Ernst Bloch, am 8. Juli 1885 als Sohn eines Eisenbahnbeamten geboren, studierte Philosophie, Musik und Physik und entwickelte in der Folge eine Philosophie der Hoffnung. Der Marxist und Jude floh 1933 vor den Nationalsozialisten in die Schweiz und emigrierte schließlich in die USA. 1949 wurde er Professor für Philosophie in Leipzig. Weil er das Konzept eines undoktrinären Sozialismus verfolgte, geriet er mit der SED in Streit und wurde 1957 zwangsemeritiert. 1961 wechselte er als Gastprofessor nach Tübingen. Er erhielt 1967 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels und hatte großen Einfluss auf die Studentenbewegung. 1977 starb Bloch 92-jährig in Tübingen. Im November 2000 wurde in Ludwigshafen das Ernst-Bloch-Zentrum eröffnet.
Er hat, angeregt durch Gustav Landauer, den Utopiebegriff verändert. Utopie meinte zuvor den Entwurf idealer Gesellschaften. Bloch machte daraus die utopische Funktion und Denkhaltung, die auch vorliegen kann, wenn man gar nicht ideale Gesellschaften entwirft. So kann jedes einzelne Kunstwerk eine utopische Funktion haben, d.h. eine Zukunftsperspektive bieten, die sich begleitet vom Hoffnungsaffekt realisieren möchte. Utopie, das war einer der Hauptgedanken von Bloch, ist nicht mit Planung zu verwechseln. In der Planung wird alles Schritt für Schritt in die Wirklichkeit übersetzt, die Utopie hingegen motiviert das Handeln. Schon die ersten Realisationsschritte können dazu führen, dass sich die Utopie im praktischen Handeln ändert, also immer einer Kritik ausgesetzt ist.
Es gibt die These, dass sich der Versuch der Veränderung, der utopische Blick in die Zukunft von der Gesellschaft in das Individuum verlagert hat, stimmen Sie dem zu?
Ja. Jean-Francois Lyotard hat das so ausgedrückt: Die großen Geschichten haben sich blamiert, etwa die sozialistische Gesellschaft in Marx'scher Ausprägung oder die Humboldt-Universität. Aber, so Lyotard, in der Gesellschaft wirken dennoch die kleinen Geschichten. Der Mensch braucht diese kleinen Geschichten zum Handeln. D.h. er lebt auch immer von Zukunftsentwürfen, eine Idee, die Bloch vom Existenzialismus übernommen hat: Der Mensch ist ein entwerfendes Wesen, keineswegs preisgegeben.
Michel Foucault hat das anders ausgedrückt: Er kritisierte die französische kommunistische Partei, als er meinte, man könne nicht als Meisterdenker haltbare Geschichtstheorien entwerfen und das Proletariat als revolutionäres Subjekt konstruieren. Foucault hat nicht gemeint, dass man emanzipatorische Politik nicht mehr treiben solle, sondern dass man die Widersprüche dort aufsuchen soll, wo sie wirklich in der Gesellschaft am Werk sind, etwa beim Umweltschutz, im Strafvollzug oder in der Psychiatrie.
Sind das jene Bereiche, in denen Sie auch heute noch konkrete Utopien sehen?
Veranstaltung am Geburtsort Blochs
Zum 125. Geburtstag von Ernst Bloch findet am 9. Juli im Ernst-Bloch-Zentrum in Ludwigshafen das "Zukunftssymposion 2010: Neue Utopien. Zeitkritik und Denkwende" statt.
Das hat sich natürlich erweitert. In der heutigen Zivilgesellschaft sind neue Fronten entstanden. Eine davon betrifft den gläsernen Menschen: Wir müssen uns mit den wirklich befreienden Aspekten der Neuen Medien und des Internets auseinandersetzen, aber auch mit dem überwachten Menschen. Alles, was im geschichtlichen Handeln auftrat, hat seine Ambivalenz. Denken Sie an die Straßenbeleuchtung der Städte und Dörfer: Sie hilft uns in der Nacht und vertritt das Tageslicht, hat aber auch eine andere Seite - sie ermöglicht eine bessere Kontrolle.
Kritiker wenden ein, dass gesellschaftliche Utopien immer in sozialtechnologisch geformte, totalitäre Staaten führen ...
Utopien im Sinne Blochs sind handlungsmotivierend und geben Kritikmaße ab, das ist entscheidend. Dick Howard meint: Kommunismus ist nicht realisierbar, kann aber ein Leitmotiv für das Handeln sein, um kleine Schritte in die Richtung zu machen. Denken Sie etwa an das arbeitslose Grundeinkommen: Das stammt durchaus aus kommunistischen Ideen, ohne dass man dadurch eine kommunistische Gesellschaft samt Archipel Gulag und neuen sozialistischen Menschen erzwingen möchte. Das ist ein Beispiel, wie sehr es darauf ankommt, die Ideen, die uns umgeben, utopisch zu deuten, weil sie utopische Gehalte haben.
Interview: Lukas Wieselberg, science.ORF.at
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