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Toilettentür mit männlichem und weiblichem Symbol

Warum ist das Geschlecht so wichtig?

Die modernen Neurowissenschaften scheinen durch ihre Techniken den Blick ins Gehirn zu ermöglichen. Dabei sollen nicht zuletzt die Fragen der Unterschiede zwischen Mann und Frau gelöst werden. Doch Natur und Kultur lassen sich im Gehirn nicht trennen, meint die Biologin und Genderwissenschaftlerin Sigrid Schmitz.

Neurowissenschaft 20.07.2010

Das individuelle Gehirn ist ständigen Veränderungen unterworfen. Für Schmitz stellt sich im science.ORF.at-Interview daher die Frage, warum es in unserer Gesellschaft so wichtig ist, "Männer und Frauen" immer wieder zu bestätigen.

Ihre Vermutung: Hinter der scheinbar biologischen Fundierung von Geschlechterdifferenzen steckt noch immer der Versuch, Machtpositionen aufrecht zu erhalten.

science.ORF.at: Neurowissenschaften liegen im Trend. Womit erklären Sie sich diesen derzeitigen Boom?

Porträtfoto der Biologin und Genderwissenschaftlerin Sigrid Schmitz

Universität Wien

Sigrid Schmitz ist Biologin und Wissenschaftsforscherin der Science &
Technologie Studies. Seit März 2010 ist sie Professorin für Gender Studies an der Universität Wien. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Gender und Hirnforschung, Visualisierungstechnologien und Wissenskonstruktionen im Brain Imaging, aktuelle Entwicklungen von Neurotechnologien, Gender und E-Learning, Theorien und Anwendungen des Embodiment sowie transdisziplinäre Genderforschung und feministische Erkenntnistheorien.

Sigrid Schmitz: Dafür gibt es nicht nur einen Grund. Ein Aspekt ist wissenschaftspolitisch. Neurowissenschaften gelten als "hard sciences", d.h. es geht um Empirie und objektive Erkenntnisse, die wir finden. Heute besteht schon fast so etwas wie eine "Neurokultur". Andere Wissenschaften beziehen sich auf die Neurowissenschaften, z.B. Neuropädagogik und Neurotheologie.

Ich denke, das hat damit zu tun, dass in Zeiten, in denen Erklärungszusammenhänge zunehmend komplexer werden, die Berufung auf die Neurowissenschaften Sicherheit gibt. Moderne bildgebende Verfahren versprechen uns, die Wirklichkeit genau darzustellen. Populärwissenschaftliche Verbildlichungen wirken stark, denn ich kann ein Ergebnis sehen. Die Frage dabei ist, ob das so einfach möglich ist, z.B. wenn es darum geht, generelle Mechanismen von Gruppen wie Frauen/Männer oder Gesunde/Kranke zu erklären.

Eine weitere Erklärung für die Popularität liegt darin, dass in einer Gesellschaft, in der Individualität und Flexibilität stark gefordert werden, der Rückbezug auf den eigenen Körper eine letzte Sicherheit bietet. Mein Körper ist mein Schicksal, und gleichzeitig kann ich in Zeiten der Neurotechnologien meinen Körper benutzen, um mich zu verbessern, etwa mit den berühmten Gedächtnispillen.

Sie haben bereits Disziplinen wie Neurotheologie und Neuropädagogik angesprochen. Sind bei dem Fokus auf die Neuroebene Kultur- und Geisteswissenschaften im Zugzwang?

Da gibt es verschiedene Diskurse. Zum einen gibt es in geisteswissenschaftlichen Disziplinen den Ansatz, neurowissenschaftliche Modelle heranzuziehen, um die eigenen Theorien stärker zu untermauern. Es gibt aber genauso Diskurse, die kritisch damit umgehen und hinterfragen, was dadurch alles verlorengeht. Ich denke da etwa an die Diskussion um den freien Willen, in der es verschiedenste Standpunkte gibt, wie umfassend das Gehirn nun unsere Entscheidungen erklärt.

Gerade in der Pädagogik werden diese unterschiedlichen Diskurse sehr deutlich: Es besteht ein großes Interesse, Grundlagen des Lernens bei Kindern neurobiologisch zu verstehen. Es gibt jedoch auch Diskussionen, die aufzeigen, welche anderen Einflüsse durch diese Biologisierung aus dem Blick geraten, wie etwa gesellschaftliche Strukturen und schulische Institutionen.

Wo liegen hier die Chancen für Beiträge aus der Genderforschung?

Zu zeigen, dass die Befunde, die wir im wissenschaftlichen Bereich haben, nicht so eindeutig sind, wie sie scheinen. Also etwa die klassischen Ansichten, dass Frauen besser in der Sprache sind und beide Hirnhälften benutzen, während Männer besser in der Raumorientierung sind und immer nur eine Hirnhälfte nutzen. Für jede dieser Untersuchungen kann man eine andere finden, die diese Befunde nicht bestätigt.

Ein zweiter Ansatzpunkt ist der methodische Aspekt. Inwieweit ist das Bild, das wir sehen, tatsächlich der Blick ins Gehirn? Die Bildgebung ist ein hoch konstruktives Verfahren, sehr erfolgreich in vielen Bereichen der Medizin, zum Beispiel für individuelle Patientinnen in der Neurochirurgie, aber begrenzt, wenn es um Generalisierungen geht. Es wird entschieden, was ins Bild kommt und was nicht. Dazu gibt es sehr schöne methodische Analysen, die zeigen, wie viele Entscheidungen im Vorfeld getroffen werden.

Ein Beispiel sind Sprachuntersuchungen bei Frauen und Männern: Das Gehirn ist immer aktiv, d.h. bei bildgebenden Verfahren muss entschieden werden, ab welcher Schwelle Aktivität überhaupt bildlich erfasst wird. Je nach Schwellwert bekomme ich Geschlechtsunterschiede in den Mittelwerten oder nicht. Das wird auch innerhalb der Neurowissenschaften sehr intensiv diskutiert.

Diese Geschlechterunterschiede betreffen auch die grundlegende Frage: Inwiefern ist die Neurobiologie unser Schicksal?

Die Genderforschung wendet sich gegen eine klassisch deterministische Sichtweise, wonach das Gehirn angeboren ist und unveränderbar bleibt. Hier muss die Plastizität diskutiert werden. Ich kann einem erwachsenen Gehirn nicht ansehen, welche Strukturen angeboren sind und welche erlernt wurden. Weder die eine noch die andere Theorie kann ich anhand des Hirnbildes beweisen.

Eine andere Diskursebene betreten wir, wenn es um neue Definitionen des biologischen Determinismus geht. Der moderne Determinismus ist nicht daran interessiert, ob mein Gehirn so ist, wie es ist, weil es angeboren ist oder das erlernt hat. Es geht darum, dass aus der aktuellen Struktur des Gehirns das Verhalten vollständig erklärt werden kann. Auch hier stellt sich die Frage, welche Aspekte in dieser Sichtweise außer Betracht gelassen werden.

Welche Unterschiede lassen sich denn auf neurobiologischer Ebene zwischen Mann und Frau tatsächlich sichtbar machen?

Die Frage kommt immer, und ich antworte dann: Warum interessiert Sie das? Wenn ich von einem Plastizitätskonzept ausgehe, ist die Variabilität innerhalb der Geschlechtergruppen oft wesentlich größer als zwischen den Geschlechtern. Fähigkeiten wie Sprache, Mathematik und räumliche Orientierung sind hoch komplex, die beteiligten Hirnbereiche überaus plastisch.

Wir können nature und nurture, Natur und Kultur im Gehirn nicht trennen. Sie stehen in ständiger Wechselwirkung. Daraus ergibt sich eher die Frage, warum es in unserer Gesellschaft so wichtig ist, die zwei Geschlechter immer wieder zu bestätigen und biologisch zu begründen.

Neben dem individuellen Bedürfnis, sich auf einfache Erklärungen zu berufen, spielen hier gesellschaftliche Machtverhältnisse eine Rolle. Unsere Gesellschaft fußt nach wie vor auf unterschiedlichen Rollenzuschreibungen, Ressourcenzugängen, Räumen, die eine Person qua Geschlecht einnehmen kann oder auch nicht. Die scheinbar biologische Fundierung von Geschlechterdifferenzen dient immer noch dazu, Hierarchien und Machtpositionen aufrecht zu erhalten.

An welchem Aspekt der Neuro-Genderforschung arbeiten Sie derzeit konkret?

Ich beschäftige mich zunehmend mit Neurotechnologien, dem Enhancement und der Optimierung. Im medizinischen Bereich geht es dabei um die Hilfe für Menschen mit Unfällen oder Behinderungen, Verbesserung der Kommunikation sowie Behandlung von Depressionen. Im Enhancement geht es um die Leistungssteigerung des gesunden Menschen.

Der Genderaspekt ist dabei erst einmal schwierig. Wir haben seit der Aufklärung eine lange Tradition der Geschlechtszuordnung in den Wissenschaften: auf der einen Seite "Rationalität", "Subjekt", "Männlichkeit", auf der anderen Seite "Emotionalität", "Reproduktion" und "Weiblichkeit". Es geht aber nicht um Männer und Frauen, sondern um männlich und weiblich, das heißt beide Aspekte können von beiden Geschlechtern übernommen werden.

Mich interessiert, ob das auf der Ebene von Neurotechnologien eine Rolle spielt. Im Bereich von Neuro-Enhancement und Neuroökonomie wird die Zuordnung, was verbessert wird, und wie das geschlechtlich konnotiert ist, immer deutlicher. In der Neuroökonomie wird mehr Augenmerk auf Emotionalität gesetzt. Es gibt beispielsweise Forschungen zu emotionaler Regulation falscher rationaler Entscheidungen.

Wenn die Frage des Geschlechtsunterschiedes in der Neurotechnologie eigentlich obsolet wird, stehen wir vor der Auflösung des Genderbegriffs?

Diese Frage hat Donna Haraway mit ihrem Cyborg-Manifest schon in den 90er Jahren aufgestellt. Für sie war der Cyborg-Begriff eine Metapher. Wenn die Grenzen zwischen Materie und Technik, Tier und Mensch immer mehr aufbrechen, ist das eine Chance. Wenn Frauen an dem Prozess dieser "Cyborgisierung" unserer Gesellschaft teilnehmen, sich also mit dieser Technik beschäftigen, bietet das Möglichkeiten, diese Grenzen aufzulösen.

Es gibt aber auch genügend Beispiele, dass sich Geschlechterzuschreibungen nicht aufgelöst haben. Am ehesten gibt es derzeit im Übergangsbereich zwischen Wissenschaft und Kunst Ansätze, spielerisch solche Grenzen aufzulösen. Kunstfiguren etwa wie Stelarc.

Der andere Bereich ist die Queerbewegung, die die Grundunterscheidung von Männern und Frauen bezweifelt und fragt: Haben wir nicht viel mehr Geschlechter? Unsere Körper, Hormone und Gehirne sind eben nicht eindeutig weiblich oder männlich. Ist Geschlecht also gar nicht so einfach zwei Polen zuzuordnen, oder ist es sogar möglich, sich ohne Geschlecht zu definieren?

Interview: Tobias Körtner, Ö1 Wissenschaft

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