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Jean-Luc Nancy

Der Philosoph der Dekonstruktion wird 70

Jean-Luc Nancy zählt zu den führenden Philosophen der Gegenwart. Der Körper und die Gemeinschaft sind die wichtigsten Themen seines Denkens, das sich stets als Dekonstruktion versteht. Am 26. Juli begeht er seinen 70. Geburtstag.

Geisteswissenschaft 23.07.2010

Komplexes Denken

Nancy bietet keine einfachen Lösungen oder Rezepte an, die es zu befolgen gibt; er präsentiert ein Patchwork von fragmentarischen Überlegungen, die von Abschweifungen und Randgängen begleitet werden. Die Lektüre seiner Schriften ist nicht einfach; sie erfordert viel Geduld und die Bereitschaft, sich auf das nicht-lineare Denken des Autors einzulassen.

Biografie

Jean-Luc Nancy wurde am 26. Juli 1940 in Caudéran, nahe Bordeaux geboren. Nach dem Studium der Philosophie, das er mit einer Arbeit über Immanuel Kant (Gutacher: Paul Ricoeur) abschloss, lehrte er an der Université Marc Bloch in Straßburg und nahm zahlreiche Gastprofessuren an verschiedenen Universitäten (unter anderen an der Freien Universität in Berlin und der University of California an. Er arbeitete eng mit dem 2007 verstorbenen Philosophen Philippe Lacoue-Labarthe zusammen und stand in einem produktiven Gedankenaustausch mit Jacques Derrida. Nach seiner Herztransplantation legte er die öffentlichen Ämter zurück und ist nach einer längeren Periode der Rekonvaleszenz als international gefragter und geschätzter Gastredner tätig (so auch am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften in Wien).

Ende der Weltbilder

Für Nancy ist ein Großteil der traditionellen Philosophie obsolet geworden. Ihr Versuch, ein universal gültiges Weltbild zu entwerfen, stellt für Nancy ein Projekt dar, das endgültig gescheitert ist. Für Nancy ist Jean-Paul Sarte der letzte Vertreter einer ideologischen Philosophie, der bereit war, auf Grund festgelegter Kategorien ein in sich geschlossenes Weltbild zu entwerfen.

Die Voraussetzung für eine Philosophie der Dekonstruktion ist es, diese Tatsache, dass es keine Weltbilder, keine "großen Erzählungen" (Jean-Francois Lyotard) mehr gibt, zu akzeptieren, wie Nancy im Gespräch mit science.ORF.at betont:

"Eine für mich wichtige Position der heutigen Philosophie besteht in der Einsicht, dass sie als eine Art Weltanschauung, als ein Weltbild zu einem Ende gekommen ist. Zwar werden noch manchmal Forderungen erhoben, dass die Philosophie die Aufgabe hat, Weltbilder zu erstellen. Das ist lange Zeit geschehen; das kann aber nicht mehr ihre Aufgabe sein. Es ist wichtig, diese Vorstellung endlich aufzugeben".

Dekonstruktion der Gemeinschaft

Ein zentraler Begriff, auf den Nancy in seiner Dekonstruktion von gesellschaftspolitischen Reflexionen zu immer wieder sprechen kommt, ist die Gemeinschaft. In zahlreichen Theorien – von Jean-Jacques Rousseau bis zu den amerikanischen Kommunitaristen wie Alasdair MacIntire und Charles Taylor – wird die Gemeinschaft als idyllische, harmonische Konfiguration des Zusammenlebens gezeichnet, in der soziale Nähe, Verantwortungsgefühl und die Anerkennung des Anderen vorherrschen. Der Gegensatz dazu ist der Moloch der Gesellschaft, der soziale Kälte, Anonymität und Verantwortungslosikeit produziert.

Bücher von Jean-Luc Nancy

Corpus, übersetzt von Nils Hodyas und Timo Obergöker, diaphanes

Ausdehnung der Seele. Texte zu Körper, Kunst und Tanz, übersetzt von Miriam Fischer, diaphanes

Die herausgeforderte Gemeinschaft, übersetzt von Esther von der Osten, diaphanes

singulär plural sein, übersetzt von Esther von der Osten, diaphanes

Philosophische Chroniken, übersetzt von Christoph Dittrich, diaphanes

Die Erschaffung der Welt oder die Globalisierung, übersetzt von Anette Hoffmann, diaphanes

Der Eindringling/Das fremde Herz, übersetzt von Alexander Garcia Düttmann, Merve

Wahrheit der Demokratie, übersetzt von Richard Steurer, Passagen

Das Vergessen der Philosophie, übersetzt von Horst Brühmann, Passagen

Sehnsucht nach Idyllen

Beispiele von idyllische Gemeinschaften sind für Nancy die traditionelle Familie, lokale Dorfgemeinschaften, die ersten christlichen Gemeinschaften oder libertäre Kommunen der 68er-Generation. Diese oft beschworenen harmonischen Gemeinschaften sind im Laufe des Globalisierungsprozesses zum größten Teil verlorengegangen. Zwar besteht eine nostalgische Sehnsucht nach solchen Idyllen, denen man aber laut Nancy skeptisch gegenüber stehen sollte.

Für Nancy sind die vermeintlich harmonischen Gemeinschaften Produkte einer Mystifikation, die die Mitglieder der jeweiligen Gemeinschaft verbindet; gleichzeitig arbeitet sie mit dem Mittel der Ausschließung, die Hass und Gewalttätigkeit mit sich bringt. So ist die auf einheitliche Normen und Werte basierende Gemeinschaft stets mit einer beunruhigenden und verstörenden Auschließungsmaschinerie gekoppelt.

"Die Allmacht und Allgegenwart eines Einheitlichen ist zu seiner eigenen Monstrosität geworden", schreibt Nancy in dem Buch "Die herausgeforderte Gemeinschaft". Eine besonders monströse Fratze der Gemeinschaft wurde dann im Nationalsozialismus und im "realen Sozialismus" sichtbar, in dem eine barbarische Politik der Ausschließung zu den Konzentrationslagern und Gulags führte.

Nancy plädiert nun für eine Gemeinschaft, für ein Zusammenleben der Menschen, das nicht von ideologischen oder religiösen Programmen geregelt wird. Er spricht von einem "Mit-Sein", einem"Zusammensein", von einer Gemeinschaft, die ohne Identifikationsmuster, wie sie Religionen, Parteien oder oder die Nationalstaaten anbieten, auskommt.

Zitat

Meiner Ansicht nach ist das erste Erfordernis, das überkommene Verständnis der ‹Gemeinschaft› unter Vorbehalt zu stellen. Auf dieser Grundlage können wir beginnen zu verstehen, dass das ‹Sein-in-der-Gemeinschaft› anders zu analysieren ist, zum Beispiel als ‹Zusammen-Sein› oder ‹Mit-Sein›. Die Hauptfrage ist, wie die Politik als eine Nicht-Totalität zu denken ist, und das heisst anders denn als Unterordnung der gesamten Existenz. (Aus: "singulär plural sein")

Corpus

Neben dem politischen Aspekt der "Gemeinschaft" steht der menschliche Körper im Zentrum von Nancy`s Denken. In seinem Hauptwerk "Corpus" wendet er sich gegen die Vorherrschaft des menschlichen Geistes in der abendländischen Philosophie, die bereits bei Platon einsetzt.

Erst Friedrich Nietzsche und Ludwig Feuerbach verwiesen auf die Bedeutung des menschlichen Körpers. Nancy bezieht sich auf die beiden Philosophen, nimmt jedoch eine entscheidende Modifikation vor: Während Feuerbach und Nietzsche den Körper enthusiastisch affimierten und verklärten, bezieht sich Nancy auf das Fragmentarische, Fragile des Körpers; er ist stets gefährdet, von Krankheiten bedroht, verwundbar.

Der Eindringling. Das fremde Herz

Die Verwundbarkeit des Körpers hat Nancy am eigenen Leib erlebt. So erhielt er 1991 ein Herzimplantat; 1997 entging er knapp dem Tod, als ein Krebsgeschwür auftrat. Nach diesen Grenzerfahrungen bezeichnet sich Nancy als "Überlebender"; "Nie hat die Fremdheit meiner Identität mich so heftig berührt und sich mit solcher Schärfe bemerkbar gemacht", notierte er. Seinen Körper erlebt Nancy als verletzbares, künstliches Gebilde; in dem Buch "Der Eindringling. Das fremde Herz" beschreibt Nancy die Folgen der Transplantation; er gibt gleichsam einen Einblick in die Dekonstruktion, die sein Körper erfahren hat:

"Ich bin die Enden der eisernen Fäden, die meinen Brustkorb zusammenhalten und die Einspritzöffnung, die für den Rest meines Lebens unterhalb meines Schlüsselbeins angebracht ist sowie ich früher bereits die Schrauben in meiner Hüfte und die Platte in meinem After war. Ich verwandle mich in den Androiden der Science-Fiction oder in einen Scheintoten".

Fazit – Denken des Undenkbaren

Diese existenzielle Erfahrung und seine Philosophie der Dekonstruktion führten Nancy dazu – ähnlich wie Jacques Derrida – über die paradoxe Erfahrung des Undenkbaren nachzudenken; über jene Sphäre, die sich stets entzieht und die mit dem Tod zu tun hat. Das Undenkbare ist die Voraussetzung, die uns provoziert und uns zum Denken bringt, es ist etwas, was über den Menschen hinausgeht; es ist etwas, worüber wir im Dunkeln tappen.

Nancy sagt: "Die Grundlage des Denkens ist immer dasjenige, was über alles Denkbare hinausgeht; es ist jener Wink von außen, von einem absoluten Jenseits, das nicht als Göttliches bezeichnet werden kann. Was in unserer Welt fehlt, ist der Sinn für das absolute Jenseits, ein Jenseits, das natürlich nirgendwo ist; es hat keine äußer Seite, der eine innere Seite gegenübersteht; es ist keine Überwelt; Blaise Pascal hatte eine Ahnung davon, wenn er schrieb: `Der Mensch geht unendlich über den Menschen hinaus`".

Nikolaus Halmer, Ö1 Wissenschaft

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