Sexualität ist auch ein Hauptthema von Paartherapien, die seit einigen Jahren in Österreich boomen. Gleichgültig ob Verhaltenstherapie, systemische Therapie oder Imago-Therapie: Immer mehr Paare frequentieren hierzulande einen der 2.000 Psychotherapeuten des Landes, die sich explizit an Paare wenden.
Warum überhaupt Männer und Frauen?
Radio-Hinweis
Dem Thema Paartherapie widmen sich auch die Ö1 Dimensionen: "Sex, Gewalt und schlechte Laune" am Dienstag, 17.8, 19.06 Uhr, Radio Österreich 1.
Warum treffen sich Frauen und Männer überhaupt, bei all ihrer Verschiedenheit? Diese Frage hat schon Sigmund Freud beschäftigt. Die Wissenschaften geben unterschiedliche Antworten auf die Frage, warum wir uns das antun.
Biologen sprechen von der Notwendigkeit stabiler Verhältnisse, um den Nachwuchs gesund und munter aufzuziehen. Psychologen verweisen auf die bessere Befriedigung menschlicher Bedürfnisse in fixen Beziehungen, wie das Ausleben von Sexualität, emotionale Sicherheit und gegenseitiges Verständnis.
Allerdings: Dass all diese Bedürfnisse von ein- und demselben Partner - und dann noch über einen längeren Zeitraum hinweg - befriedigt werden, ist eher selten. In der Phase der Verliebtheit spielen die Hormone noch verrückt. Üblicherweise liegen Mann und Frau - oder gleichgeschlechtliche Partner - zu diesem Zeitpunkt auch im Alltagsleben noch ganz auf einer Wellenlänge. Sind die Flitterwochen der Pheromone und Fantasien aber vorüber, beginnen die Mühen des Alltags. Und die führen unter anderem dazu, dass in Österreich rund die Hälfte aller Ehen geschieden wird.
Sexuelle Anziehung nimmt nach drei Jahren ab
Studien zum Thema:
Etiony Aldarando: Screening for Physical Violence in Couple Therapy: Methodological, Practical and Ethical Considerations, in "Family Process", Juli 2004
Neil S. Jacobson: Research on Couples and Couple Therapy. What do we know? Where are we going?, in: Journal of Consulting and Clinical Psychology, Februar 1993
Douglas K. Snyder: Current Status and Future Directions in couple therapy, in: Annual Review of Psychology, Jänner 2006
"Im Durchschnitt nehmen die sexuelle Spannung und Anziehung nach den ersten drei Jahren ab, bei manchen früher, bei manchen später. Und das ist für viele Paare eine Belastung", sagt Alfred Pritz, Psychoanalytiker und Rektor der Sigmund Freud Privatuniversität Wien.
Sexualität ist ein Hauptthema von Paartherapien. 900 Patienten kommen laut Pritz pro Woche in die psychotherapeutische Ambulanz der Universität. Darunter befinden sich auch viele Paare mit Liebes- oder Libidoproblemen. Oft gären diese Probleme jahrelang unausgesprochen und unbehandelt in einer Beziehung. Plötzliche Ereignisse können sie aber an den Tag bringen. Ein Dauerbrenner dabei heißt: Fremdgehen.
"Dabei geht es um eine tiefe Kränkung. Der Partner, der betrogen wird, fühlt sich entwertet, verspürt Rache-, Einsamkeits- und Angstgefühle, verlassen zu werden. In der Paartherapie versuchen wir sichtbar zu machen, was das für den anderen Partner bedeutet. Wenn das einmal verstanden wird, dann ändern sich oft Einstellungen", sagt Pritz.
Affäre, Gspusi oder Beziehung?
Bücher zum Thema:
M. Wirsching u. P. Scheib (Hg.): Paar- und Familientherapie, Springerverlag 2002
Rosmarie Welter-Enderlin: Einführung in die systemische Paartherapie, Carl-Auer Verlag 2007
Wolfgang Lutz (Hg.): Lehrbuch der Paartherapie, Verlag UTB / Reinhardt 2006
Brandl-Nebehay u. J. Hinsch (Hg.): Paartherapie und Identität. Denkansätze für die Praxis, Carl-Auer Verlag 2010
L. Greenberg u. R. Goldman: Die Dynamik von Liebe und Macht. Emotionsfokussierte Paartherapie, Ernst Reinhardt Verlag 2010
Entscheidend ist laut der systemischen Psychotherapeutin Andrea Brandl-Nebehay, in den Sitzungen die Bedeutungen von Handlungen herauszuarbeiten, die sich zwischen den Partnern stark unterscheiden können. Das beginnt schon bei der Wahl der Begriffe: Ist Sex mit einem anderen ein Zeichen von Betrug oder von Untreue? Ist es eine Affäre, ein Gspusi oder bereits der Beginn einer neuen Beziehung?
Sollte man vielleicht statt Fremdgehen einen anderen Ausdruck verwenden wie z. B. "Wildgehen"? Diesen Begriff schlägt die Verhaltensforscherin und systemische Psychotherapeutin Sabine Klar in dem Buch "Paartherapie und Identität" vor. Wer fremdgeht, weicht vom bekannten Verhalten in der Beziehung ab, der oder die andere nicht. "Die abweichende Person erscheint als VerräterIn und wird dazu aufgefordert, zurückzukehren ins Altvertraute, das als 'besser' bzw. 'normaler' bewertet wird", schreibt Sabine Klar in dem Buch. Das führe aber zu mehr Problemen als Lösungen.
Mit dem Begriff "Wildgehen" hingegen könne die Abweichung vom richtigen Weg als kreativer Akt verstanden werden, "der auch der sozusagen 'zurückgebliebenen' Person - bei aller verständlichen Verunsicherung und Kränkung - andere Bewegungsformen und -richtungen eröffnet."
Autonomie vs. Bezogensein
Je nachdem, welche Worte wir also zur Beschreibung eines Sachverhalts verwenden, verändern sich die mitgedachten Bedeutungen. Und das führt beim Fremd- oder Wildgehen zu mindestens zwei Perspektiven.
"Die eine Möglichkeit ist aus der Sicht der Autonomie zu sehen. Das ist eher eine Männersicht, die die persönliche Erweiterung durch eine weitere Beziehung betont. Die zweite Sichtweise ist die des Bezogenseins. Beziehungsbetrug ist dabei das Verhältnis von Täter und Opfer. Aus der Sicht der Autonomie geht es immer darum, die Beziehung zu erweitern, aus der Sicht des Bezogenseins immer darum, sie zu erhalten", erklärt der Psychotherapeut Joachim Hinsch.
Autonomie gilt gesellschaftlich immer noch als Domäne der Männer: Wenn Männer in der Paartherapie oft großspurig von Trennung oder Scheidung sprechen, heißt das aber nicht, dass sie darunter später nicht leiden. Im Gegenteil: Frauen leiden in Beziehungen meistens vor der Trennung mehr, Männer danach. Ihr Depressionsrisiko ist nach Scheidungen höher als jenes der Frauen.
Regeln hinterfragen
Damit es nicht dazu kommt, ist Paartherapie für viele eine letzte Möglichkeit. Gerade beim Thema Fremdgehen geht es dabei meist um die expliziten oder impliziten Regeln eines Paars. Diese Regeln gilt es in der Paartherapie zu hinterfragen.
"Was hat ein Paar für Regeln aufgestellt, sind die noch haltbar, oder müssen sie geändert werden? Es steht ja nirgends geschrieben, wie solche Abmachungen auszusehen haben. Paare können sich die Regeln selbst ausmachen. Nur sollten sie von beiden getragen werden", meint die personenzentrierte Paartherapeutin Clara Arbter-Rosenmayr.
"Es kann nicht einer die Regeln festlegen und sagen: Okay, wir machen uns Treue aus, aber der andere stimmt innerlich nicht zu. Das wäre ein Ziel von Paartherapie, dass man miteinander Regeln etabliert, die für wichtige Bereiche gelten."
Therapeuten als Priester
Dem äußeren Ergebnis nach sind Paartherapien oft kein Erfolg. Geschätzte zwei Drittel aller Paare trennen sich nach einer Therapie. Der Grund dafür liegt darin, dass die meisten Paare erst sehr spät kommen, wenn zumindest einer der Partner bewusst oder unbewusst einen Trennungswunsch hegt.
Auch der Rektor der Sigmund Freud Privatuniversität Pritz sieht die Rolle von Paartherapeuten insofern beschränkt: "Viele brauchen sozusagen eine Entschuldigung, dass sie sich trennen dürfen. Und der Therapeut ist dann eine Art Priester, der die Absolution erteilt."
Lukas Wieselberg, science.ORF.at
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