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Wie Ernährung das Leben prägt

Studien zufolge beeinflusst die frühkindliche Ernährung den Lebensweg stärker als bisher gedacht. Sie stellt nicht nur Weichen für die spätere geistige Leistungsfähigkeit, sie entscheidet auch darüber, wie viele Sexualpartner man im Leben hat.

Medizin 14.09.2010

Hungersnot im Zweiten Weltkrieg

Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs verübten niederländische Widerstandkämpfer einige Anschläge auf Züge und Geleise, um die Truppenbewegungen der deutschen Besatzer zu behindern. Die Nazis reagierten daraufhin mit einer drakonischen Vergeltungsmaßnahme: Sie verhängten ein Lebensmittelembargo, das vor allem in den westlichen Niederlanden eine schwere, halbjährige Hungersnot nach sich zog. Die tägliche Energieaufnahme fiel in dieser Zeit auf bis zu 400 Kilokalorien - zu wenig, um zu leben, nicht unbedingt zu viel, um zu sterben.

Die medizinischen Langzeitwirkungen dieser humanitären Katastrophe untersuchten Forscher bereits im Jahr 1972. Damals fand man bei Betroffenen zunächst noch keine nennenswerten Auswirkungen, zumindest nicht bei kognitiven Tests. Einige Jahrzehnte später indes sollte sich das Bild ändern. Niederländer, die der sechsmonatigen Hungersnot als Ungeborene im Mutterbauch ausgesetzt waren, litten, mittlerweile 50 bis 58 Jahre alt, deutlich öfter an Herzkreislaufkrankheiten sowie an Typ-2-Diabetes.

Studien:

The Dutch famine and its long-term consequences for adult health, "Early Human Development" (Bd. 82, S. 485).

Prenatal undernutrition and cognitive function in late adulthood, "PNAS" online (doi: 10.1073/pnas.1009459107).

Da es sich bei diesen Krankheiten um typische Alterungserscheinungen handelt, vermutete die Epidemiologin Susanne de Rooij, dass sich derlei Effekte auch in geistiger Hinsicht nachweisen ließen. Wie sie nun mit vier Kollegen im Fachblatt "PNAS" berichtet, trifft das auch zu: Mangelernährung in frühester Kindheit reduziert im Erwachsenenalter etwa nicht nur den Kopfumfang, sie vermindert ab einem Alter von 50 Jahren auch die Widerstandkraft gegenüber altersbedingtem kognitiven Leistungsabfall.

Langzeitfolge: Verminderte Aufmerksamkeit

De Rooij und ihre Mitarbeiter untersuchten neben allgemeiner Intelligenz, Gedächtnis und motorischen Fähigkeiten (wo sich keine Unterschiede zu Vergleichsgruppen nachweisen ließen) auch die selektive Aufmerksamkeit. Etwa mit folgender Aufgabe: Das Wort "Blau" erscheint in gelber Schrift auf einem Bildschirm, gemessen wird die Reaktionszeit, bis die Probanden die Farbe der Buchstaben benennen können.

Die Leistung bei solchen Tests nimmt im Alter grundsätzlich ab - besonders schlecht war jedoch die Performanz jener Probanden, die als Ungeborene hungern mussten. Welche physiologischen Mechanismen dafür verantwortlich sind, wissen de Rooij und Co nicht. Fest steht jedenfalls, dass eine schlechte selektive Aufmerksamkeit auch als Indikator für eine spätere Alzheimererkrankung verwendet wird. Und das passt wiederum durchaus zu de Rooijs Vermutung, die Betroffenen würden grundsätzlich früher altern.

Der Muttermilch-Faktor

In der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift "PNAS" weist auch eine zweite Studie auf die Langzeitwirkungen frühkindlicher Ernährung hin. Christopher Kuzawa von der Northwestern University, Illinois, hat 770 phillipinische Männer untersucht, die von der Geburt bis zu einem Alter von 20 bis 22 Jahren medizinisch begleitet wurden. Die biografisch-medizinischen Daten zeigen, dass die Stillperiode insbesondere in armen Ländern von entscheidender Bedeutung ist. Jene, die sich als Babys von Muttermilch ernährten, litten seltener unter Durchfall, wuchsen in wohlhabenderen Haushalten mit besserer Hygiene auf und wurden schneller groß.

Soweit, so wenig überraschend. Das Wachstum erwies sich überdies als gutes Vorhersagekriterium für die spätere Entwicklung. Jene, die im Alter von sechs Monaten zu den Großen zählten, kamen früher in die Pubertät, hatten als Heranwachsende einen höheren Testosteronspiegel im Blut, mehr Körperkraft sowie insgesamt mehr Sexualpartnerinnen.

Kuzawa und seine Kollegen deuten dieses Resultat in evolutionsbiologischer Manier: Demnach investiert der Körper nur dann in "teure" körperliche Eigenschaften, wenn die Nährstoffversorgung passt. In Mangelzeiten indes sind typisch männliche Attribute Luxus - und daher bis zu einem gewissen Grad auch verzichtbar.

science.ORF.at

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