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Alte Frau im Krankenbett zieht sich am Trapez auf

Die Ethik von Ambient Assisted Living

Der steigende Bedarf an Pflege und medizinischer Versorgung stellt das Gesundheitssystem vor neue Herausforderungen. Diskutiert und erprobt wird dabei auch der verstärkte Einsatz moderner Technik, und zwar nicht nur in Spitälern, sondern auch in der häuslichen Betreuung und Pflege - Ambient Assisted Living (AAL) ist das neue Zauberwort.

Pflege 01.10.2010

Darunter versteht man Konzepte, Produkte und Dienstleistungen, die neue, sogenannte assistive Technologien und soziales Umfeld miteinander verbinden. Ziel dabei ist es, die Lebensqualität für Menschen in allen Lebenslagen zu verbessern. Die Anwendungsmöglichkeiten reichen vom "intelligenten Wohnen" (Smart Home, Smart Living) bis zur Telemedizin.

Ulrich Körtner

Uni Wien

Mit den ethischen Aspekten der High-Tech-Pflege beschäftigt sich der Theologe und Bioethiker Ulrich Körtner in einem science.ORF.at-Gastbeitrag.

Hilfe in allen Lebensbereichen

Von Ulrich Körtner

Telemedizin und AAL im Bereich von Pflege und häuslicher Betreuung bieten Chancen, stellen uns aber auch vor ethische Herausforderungen, die sich an einem Fallbeispiel zeigen lassen.

Ulrich Körtner ist Vorstand des Instituts für Systematische Theologie und Religionswissenschaft an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien. Er leitet außerdem das Institut für Ethik und Recht in der Medizin.

Frau F. ist 82 Jahre alt und wohnt für sich allein. Nach einem Sturz im vergangenen Herbst hat sie Angst, erneut zu stürzen. Seitdem verlässt sie immer seltener ihre Wohnung. Kürzlich hat sich Frau F. beraten und ihre Wohnung ihren Bedürfnissen entsprechend umbauen lassen. Sie kann nun auf ein erweiterbares System zur unterstützten Wohnraumgestaltung zurückgreifen, das bei ihr derzeit mehrere Module umfasst. Installiert sind die Module Mobilität, Sturz, Medikamente, Kommunikation, Inkontinenz und Ernährung.

Das Modul Kommunikation besteht in einer Videokonferenz über TV mit Verwandten und Freundinnen (gegen Einsamkeit und Depressionen). Ein interaktiver Blister (iBlister), der an Medikamenteneinnahme erinnert, sowie die Möglichkeit von virtuellen Hausbesuchen des Arztes bilden das Modul Medikamente. Zum Modul Inkontinenz gehören ein „intelligentes“ WC, sowie Blasen- und Beckenbodentraining. Werte und Urinanalysen werden gegebenenfalls an Hausarzt gesendet. Das Modul Mobilität besteht aus einem am Handgelenk installierten Sensorsystem, das laufend Gangsicherheit, Gleichgewichtig und Vitalwerte kontrolliert.

Ein durch Daten zusammengestelltes Bewegungsprogramm soll das Sturzrisiko minimieren. Für den Fall eines Sturzes trägt Frau F. Protektoren (eine Art Airbag) an den Hüften. Zusätzlich ist die Wohnung mit Sensoren ausgestattet - das Modul Sturz -, die im Fall eines Sturzes Notruf aussenden. Außerdem sind die Ärzte von der Patientin autorisiert, die Gesundheitsakte und die Medikation einzusehen, um gegebenenfalls eine Operation vorbereiten zu können. Schließlich gibt es noch das Modul Ernährung: Ein Ernährungsmanager beugt dem Risiko der Mangelernährung vor. Er kontrolliert z.B. den Inhalt des Kühlschranks.

Wer trägt die Verantwortung?

Das Beispiel wirft eine Reihe von ethischen Fragen auf, mit denen sich auch eine Stellungnahme der österreichischen Bioethikkommission befasst. An erster Stelle seien die Probleme des Datenschutzes und des Schutzes der Privatsphäre genannt. Sodann stellt sich die Frage nach den unterschiedlichen Verantwortlichkeiten: Wer ist verantwortlich für die angemessene Praxis und Kontrolle der Telemedizin?

Anders als im Spital oder Pflegeheim mit klarer Rollen- und Verantwortungverteilung sind in bei AAL in den eigenen vier Wänden mehrere Akteure lose verbunden. Wie wird die Verantwortung koordiniert? Wer hat die Letztverantwortung und wer haftet, wenn etwas schiefgeht?

Weitere Fragen betreffen die Stichworte Abhängigkeit, Objektivierung, Alter als eigene Lebenszeit und Leiblichkeit. Minimiert oder vergrößert der Einsatz an Technik die Abhängigkeit der Betroffenen von fremder Hilfe? Wie steht es mit der Fehleranfälligkeit bzw. Fehlerfreundlichkeit von AAL-Systemen? Wird durch assistive Technologien die Dominanz von objektiven Daten in Medizin und Gesundheitswesen verstärkt? Welches Alter(n)skonzept steht hinter der Entwicklung assistiver Technologien? Fördern sie die Sicht des Alter(n)s als Verlängerung der aktiven Arbeitszeit? Oder wird Alter als eigene Lebensphase gewürdigt? Und wie gehen wir - wenn auch einseitig defizitorientierte Alterskonzepte zu kritisieren sind –-mit der Erfahrung der Endlichkeit und des Todes um?

Nicht zuletzt betreffen assistive Technologien unser Verständnis der menschlichen Leiblichkeit. Sie fördern nämlich die Virtualisierung menschlichen Lebens, die freilich auch in anderen Lebensbereichen stattfindet. Wo bleibt beim Einsatz assistiver Technologie die Dimension unserer Leiblichkeit, auch der Leiblichkeit zwischenmenschlicher Kommunikation und Beziehungen (z.B. Körperkontakte)?

Selbstbestimmung versus Fürsorglichkeit

Wo die Leiblichkeit des Menschen, sein Bedürfnis nach Körperkontakt und leibhaftiger Zuwendung missachtet wird, droht der mit assistiven Technologien ausgestatteter Lebensraum zum Albtraum zu werden. Wo aber der Mensch in seiner Leiblichkeit, seiner Bedürftigkeit und Verletzlichkeit geachtet wird, können assistive Technologien einen Gewinn an Freiheit und Lebensqualität bringen.

Als allgemeiner ethischer Grundsatz sollte gelten, dass der Einsatz assistiver Technologien in Medizin und Pflege stets patientenzentriert erfolgt. Es sind also das tatsächliche Ausmaß an Gebrechlichkeit, die konkreten individuellen Alternsprozesse, aber auch die persönlichen Lebensumstände und Lebensvorstellungen des Patienten zu beachten. In unserer modernen pluralistischen Gesellschaft muß man auch bei alten Menschen mit höchst unterschiedlichen Lebensentwürfen, Werthaltungen und Vorstellungen von Lebensqualität rechnen.

Die ethische Grundsatzfrage lautet, wie sich die Prinzipien der Selbstbestimmung und der Fürsorglichkeit bzw. Selbstverantwortung und Fremdverantwortung ins rechte Verhältnis setzen lassen. Wie weit haben zum Beispiel Dritte oder die Gesellschaft bzw. die Solidargemeinschaft das Recht, vom Individuum ein bestimmtes Gesundheitsverhalten und einen bestimmten Lebensstil zu verlangen oder gar zu erzwingen?

Menschenrechte und Pflichten

Ein Grundsatz moderner Medizin und Pflege ist die freiwillige und informierte Zustimmung des Patienten (informed consent). Wie lässt sich dieses Prinzip beim Einsatz assistiver Technologien umsetzen, insbesondere, wenn es sich um einwilligungsunfähige, z.B. demente Personen handelt? Wie auch sonst in Medizin und Pflege setzt der Einsatz assistiver Technologien ihre Akzeptanz durch den Patienten oder Bewohner voraus. Es können immer wieder Probleme durch fehlende Compliance entstehen. Wie weit reicht dann das Recht oder die Pflicht, Menschen vor sich selbst zu schützen?

Einsatz und Entwicklung assistiver Technologien berühren einige grundlegende Menschenrechte, nämlich das Recht auf Leben (Art.2 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK)), das Recht auf Freiheit und Sicherheit (Art. 5 EMRK) sowie das Recht auf Privatsphäre, auf Achtung des Privat- und Familienlebens, der Wohnung und des Briefverkehrs (Art. 8 EMRK).

AAL wirft außerdem eine Reihe von forschungsethischen Fragen auf. Generell unterliegen medizinische Forschung und Pflegeforschung der Kontrolle durch Ethikkommissionen. Zwar gibt es international sogenannte Codes of Conduct auch für technische Wissenschaften und Forschung. Welcher konkrete Regelungsbedarf für Forschungen auf dem Gebiet asssistiver Technologien besteht, wäre jedoch gesondert zu diskutieren.

Kein Ersatz für menschliche Zuwendung

Assistive Technologien haben auch eine gesellschaftliche und politische Dimension. AAL könnte schon bald zu einer Frage der sozialen Gerechtigkeit werden. Derzeit werden vor allem frei finanzierte Geschäftsmodelle entwickelt. Wer bezahlt den Einsatz von asssitiven Technologien bei Menschen mit geringem Einkommen oder sozial Schwachen? Wird es in unserem Gesundheitswesen den für alle Menschen den gleichen Zugang zu Telemedizin und AAL geben, oder entwickelt sich eine neue Form der Zweiklassenmedizin? Kurz: Einmal mehr stellt sich die Frage nach der Ressourcenallokation im Gesundheitswesen. Diese ist eine Frage nicht nur der Verteilungsgerechtigkeit, sondern auch der Teilhabe- oder Befähigungsgerechtigkeit.

Wenn Kostendämpfung im Gesundheitswesen und die Kompensation von fehlendem Pflegepersonal im Vordergrund stehen sollten, würde die Entwicklung assistiver Technologien einer problematischen Entwicklung der Gesellschaft Vorschub leisten. Assistive Technologien werden ihrem Namen nur dann gerecht, wenn sie tatsächlich nur als Unterstützung, nicht aber als Ersatz für menschlichen Zuwendung und Hilfeleistung gedacht sind, als Förderung eines selbstbestimmten Lebens, aber nicht als Verstärkung von Vereinzelung und Vereinsamung. Die öffentliche Diskussion hierüber steht noch am Anfang.

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