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Arbeitslosigkeit: Die Theorie der Suche

Der Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften wurde in diesem Jahr für die Theorie der Sucharbeitslosigkeit vergeben. Michael Reiter vom Wiener Institut für Höhere Studien erklärt in einem Gastbeitrag, was diese Theorie zu erklären vermag - und wie sie das Bild der Arbeitslosigkeit verändert hat.

Ökonomie 14.10.2010

Ein Ärgernis der Wirtschaftstheorie

Von Michael Reiter

Zur Person

Michael Reiter promovierte an der Universität München im Fach Volkswirtschaft und forschte danach an der University of Western Ontario sowie an der Universitat Pompeu Fabra. Seit 2007 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter des Instituts für Höhere Studien in Wien.

Bevor die Arbeiten der diesjährigen Ökonomie-Nobelpreisträger - Peter Diamond, Dale Mortensen und Christopher Pissarides - erschienen, war die Arbeitslosigkeit für die Wirtschaftstheorie etwas, das es eigentlich nicht geben durfte. Wenn der Arbeitsmarkt gut funktioniert, sorgt der Lohnsatz dafür, dass Arbeitsangebot und Arbeitsnachfrage übereinstimmen, und dann gibt es keine Arbeitslosigkeit. Das heißt, jeder, der zum gängigen Marktlohn arbeiten will, findet auch Arbeit. Wenn es doch Arbeitslosigkeit gibt, muss das daran liegen, dass Regierungen oder Gewerkschaften den Markt behindern, zum Beispiel durch Setzen eines zu hohen Mindestlohns.

Die angewandte Wirtschaftsforschung hat das Phänomen der Arbeitslosigkeit natürlich nicht ignorieren können. So hat man etwa in den USA eine Arbeitslosenrate von etwa 5 Prozent als "Vollbeschäftigung" betrachtet. Aber warum gerade 5 Prozent? Könnte es nicht etwas weniger sein? Warum war die Arbeitslosenrate in Europa (damals, in den 1960ern) meistens niedriger. Darauf konnte man keine befriedigende Antwort geben.

Passung zwischen Geber und Nehmer

Die drei Preisträger

Peter A. Diamond (Massachusetts Institute of Technology, USA 1940) ist ein äußerst vielseitiger Ökonom. Der Schwerpunkt seiner Arbeiten liegt wohl auf dem Gebiet der Fiskalpolitik, insbesondere der Theorie der optimalen Besteuerung und der Sozialversicherung. Seine Arbeiten zu den theoretischen Grundlagen der Suchtheorie, die jetzt Ausgezeichnet wurden, stammen aus den 80er Jahren.

Dale T. Mortensen (Northwestern University, USA 1939) und Christopher A. Pissarides (London School of Economics, Zypern 1939) haben die Suchtheorie des Arbeitsmarkts in eine Form gegossen, die auch für empirische Anwendungen attraktiv ist.

Hier setzt die Theorie der Sucharbeitslosigkeit an, die ganz wesentlich von den diesjährigen Nobelpreisträgern entwickelt wurde. Ausgangspunkt ist die alltägliche Beobachtung, dass in jedem Moment viele bestehende Arbeitsverhältnisse aus den verschiedensten Gründen beendet werden. Vielleicht weil das Unternehmen in Konkurs geht, vielleicht weil Arbeitnehmer sich beruflich oder geographisch verändern möchten, etc.

In der Regel suchen diese Arbeitnehmer eine neue Beschäftigung. Gleichzeitig suchen expandierende Unternehmen nach geeigneten Arbeitnehmern für ihre vakanten Stellen.

Um eine hohe Produktivität zu erzielen, müssen der Arbeitsplatz und der Arbeitnehmer zusammenpassen. Um einen optimalen "match" zu erzielen, braucht es viele Stelleninserate, Bewerbungen, Vorstellungsgespräche, etc. Dieser beidseitige Suchprozess kostet Geld und braucht Zeit.

Suche als dynamisches Gleichgewicht

Durch diesen Suchprozess erklärt sich Arbeitslosigkeit als ein dynamisches Gleichgewicht, in dem Zuflüsse in die Arbeitslosigkeit (Kündigungen) und Abflüsse aus der Arbeitslosigkeit (neue Arbeitsverhältnisse) sich im Durchschnitt die Waage halten. In diesem Rahmen kann man analysieren, welche Faktoren auf die Höhe der Arbeitslosigkeit einwirken.

Warum braucht ein Arbeitsloser in den USA im Durchschnitt ungefähr 3 Monate, um einen neuen Job zu finden, in Deutschland aber 12 Monate? Dies ist eine Folge vieler institutioneller Faktoren: die Ausgestaltung der Arbeitslosenversicherung und des Sozialsystems, das Ausmaß des Kündigungsschutzes, die Besteuerung der Arbeit, etc.

Ö1 Sendungshinweise:

Die Ö1 Journale und Ö1 Wissen aktuell berichteten über den Wirtschaftspreis der Schwedischen Reichsbank.

Dabei ist eine längere Suchdauer nicht notwendigerweise negativ: Sie kann auch dazu führen, dass Arbeitnehmer produktiver werden, weil sie einen geeigneteren Job finden. Und wie wirkt sich eine Erhöhung des Kündigungsschutzes aus? In einer Übergangsphase wird wahrscheinlich die Arbeitslosigkeit sinken, weil weniger Arbeiter entlassen werden.

Mittel- und langfristig werden aber auch die Stellenangebote sinken, weil der Kündigungsschutz mehr Kosten und Risiken für die Unternehmen bringt. Dieser negative Effekt wird allerdings dadurch abgeschwächt, dass Arbeitnehmer im Gleichgewicht jetzt bereit sind, für einen geringeren Lohn zu arbeiten, wofür sie der Kündigungsschutz entschädigt.

Löhne vs. Arbeitslosenrate

Die hohe Akzeptanz der neuen Theorie liegt darin, einen natürlichen Rahmen bereitzustellen, in dem man arbeitsmarktpolitische Fragen sinnvoll stellen und diskutieren kann, und versuchen kann, empirische Phänomen des Arbeitsmarktes zu erklären. Dies heißt natürlich nicht, dass die Theorie keine Fragen mehr offen lässt.

Um nur ein aktuelles Beispiel zu nennen: die Arbeitslosenrate in den Vereinigten Staaten ist zwischen 2007 und 2009 als Folge der Wirtschaftskrise von 4,5 Prozent auf 10 Prozent hochgeschnellt. Im selben Zeitraum sind die durchschnittlichen Stundenlöhne der Arbeiter und Angestellten um 6 bis 7 Prozent gestiegen. Wäre es nicht sowohl für die Unternehmen als auch für die Arbeitnehmer besser, bei (vorübergehend) niedrigeren Löhnen mehr Arbeitnehmer zu beschäftigen? Wenn ja, warum passiert das nicht?

Seit fast 100 Jahren wird diese Frage diskutiert, und auch die neue Theorie der Sucharbeitslosigkeit liefert dafür keine schlüssige Erklärung. Sie erlaubt es aber, das Problem zu quantifizieren und empirisch zu erforschen: wie flexibel sind die Löhne in Wirklichkeit, und wie wirkt sich kurz- und langfristig das auf die Arbeitslosenrate aus?

Die Wiener Suchtheorie

Über solche Fragestellungen wird weltweit intensiv geforscht, und besonders auch in Wien. Monika Merz, die aus Bonn kommend vor wenigen Wochen einen Ruf der Universität Wien auf einen Lehrstuhl für Makroökonomie angenommen hat, promovierte bei Dale Mortensen und war weltweit die erste, die die neue Theorie der Sucharbeitslosigkeit in das gängige Modell der Konjunkturtheorie eingebunden hat.

Am Institut für höhere Studien (IHS) forscht eine Gruppe von Makroökonomen (Christian Haefke, Tamas Papp und der Autor dieses Beitrags) zu Fragen der Arbeitsmarktpartizipation, Lohnungleichheit und Lohnflexibilität. Und ganz aktuell organisiert das IHS zusammen mit der Wirtschaftskammer Österreich am 28.Oktober eine Diskussionsrunde zum Thema "The Effects of the Crisis on the Labour Market". Die dort diskutierten empirischen Befunde wären nicht denkbar ohne die Vorarbeit der diesjährigen Preisträger.

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