Geisteswissenschaften, so ein gängiges Stereotyp, seien für "Gesinnung" da, während die "objektiven" Naturwissenschaften der Praxis dienten. Sie ließen sich zwar für praktische Anwendungen - beispielsweise Kriege, aber kaum ideologisch instrumentalisieren.

Uni Wien
Mitchell G. Ash/Wolfram Nieß/Ramon Pils (Hg.): "Geisteswissenschaften im Nationalsozialismus. Das Beispiel der Universität Wien". Vienna University Press bei V&R unipress. 2010
Diese Sicht der Dinge sei mittlerweile, so stellt einer der Herausgeber des Buches, der Historiker Mitchell Ash, fest, von der Forschung längst relativiert worden. Beide großen Wissenschaftszweige erfüllten nämlich, das sei belegbar, unter bestimmten Voraussetzungen sowohl "praktische" als auch ideologische Funktionen.
Die "Aktion Ritterbusch"
Der prinzipielle ideologische, aber auch praktische Nutzen der Geisteswissenschaften für das NS-System äußerte sich auf ganz verschiedene Art: Anfang 1940 etwa rief - so berichtet der deutsche Historiker Frank-Rutger Hausmann, einer der Pioniere auf diesem Forschungsgebiet - der Rektor der Universität Kiel, Paul Ritterbusch, auf Weisung von oben "alle deutschen Geisteswissenschaftler einschließlich der Juristen auf, sich an einem "Gemeinschaftswerk" zu beteiligen, das bald als "Kriegseinsatz" bzw. "Aktion Ritterbusch!" bezeichnet wurde“.
Geplant waren umfangreiche gelehrte Publikationen in Sammelbänden, die einerseits die "Überlegenheit des deutschen Geistes" dokumentieren, aber auch deklarierte Kriegsziele der Nationalsozialisten, wie Ansprüche auf wichtige (z.B. bodenschatzreiche) Teile Europas, wissenschaftlich untermauern sollten. Mehr als 500 der Aufgerufenen folgten dem auch be-reitwillig - darunter auch sehr viele (vormalige) Österreicher. Hier gab es aber außerdem noch eine Reihe eigener Initiativen, im Rahmen derer sich österreichische Geisteswissenschaftler mit ihrer Arbeit ganz konkret in den Dienst der NS-Kriegspolitik stellten.
Ö1-Sendungshinweis:
Ein Beitrag zu dem soeben erschienen Sammelband ist auch im Dimensionen-Magazin von Ö1 zu hören, am Freitag, dem 22. Oktober um 19.06 Uhr.
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"Wissenschaftliche Politikberatung"
Ein Beispiel dafür ist die so genannte "Südost-Forschung", deren Angelpunkt Wien war. Unter dieser Bezeichnung firmierten wissenschaftliche Einrichtungen, die zum Teil allerdings schon lange vor der NS-Machtübernahme entstanden waren: Darunter die bereits 1931 ge-gründete "Südostdeutsche Forschungsgemeinschaft" mit Sitz in Wien, die interdisziplinär ausgerichtet war.
Schon damals, so betont Mitchell Ash, hätten sich Historiker und Geographen intensiv bemüht, eine "deutsche Kultur" in Südosteuropa herauszuarbeiten - mit dem kaum verhohlenen Ziel, die nach Ende des Ersten Weltkrieges "den Deutschen von den Siegermächten diktierten" Friedensverträge zu revidieren. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten erlebten diese Forschungsgemeinschaften einen deutlichen Aufschwung: Was als wissenschaftliche Theorie vorbereitet war, sollte nun konkret - und mit Gewalt - umgesetzt werden.
Willfährige Wissenschaft
An der Wiener Universität haben Geisteswissenschaftler - auch das ist in dem Buch ausgeführt - ab 1938 wesentliche Beiträge zu den bevölkerungspolitischen Vorhaben der Nationalsozialisten geleistet. Und sie haben viele ihrer einschlägigen Forschungsergebnisse ohne speziellen Auftrag, aus freien Stücken, zur Verfügung gestellt.
In Zusammenhang damit wurde auch die - heute so genannte - "Gegner-Forschung" vorange-trieben; de facto die Erstellung von Feindbildern, mit ausdrücklich wissenschaftlichem Anspruch. Besonderes Augenmerk legte man dabei auf die - damals so genannte -"Juden-Forschung". Bei dieser Art "perverser wissenschaftlicher Politikberatung", wie Historiker Ash es nennt, ging es u.a. auch um die Erfassung von Kulturgütern, die ihren Besitzern geraubt worden waren oder dies werden sollten, um eine ebenso perverse "Memorienpflege" zu ermöglichen - nachdem die Bestohlenen in der Mordmaschinerie der Nazi umgekommen waren.
Handlungsspielräume
Die Verstrickung der Wiener Geisteswissenschaftler in den Nationalsozialismus wird im Buch aber auch unter ganz anderen Aspekten dargestellt: So werden u.a. Handlungsspielräume erörtert, die sich Universitätsangehörigen nach 1938 eröffneten - sofern sie grundsätzlich in die Nazi-Ideologie passten:
Wer Forschungsprojekte dementsprechend ausrichtete, kam leichter zu Geldmitteln. Und wer unliebsame Konkurrenten loswerden wollte, bekam nun plötzlich Gelegenheit dazu, indem Kollegen zum Beispiel als Gegner der Regimes denunziert wurden mit dem Hintergedanken, den freiwerdenden Posten gleich selber einzunehmen.
"Säuberungsaktionen"
Im Bereich der Geisteswissenschaften wurde nach dem Anschluss an Hitlerdeutschland etwa ein Drittel der Lehrenden entlassen: Menschen, die im Sinne der Nazis als Juden galten, aber auch Anhänger des Vorgängerregimes, des austrofaschistischen Ständestaates. Dieser wie-derum hatte zuvor schon Sozialdemokraten und Kommunisten von den Universitäten vertrieben.
In der NS-Zeit gingen an der Universität Wien die "Säuberungsaktionen" vergleichsweise zügig voran. Schließlich konnte man auf Erfahrungen aus dem so genannten "Altreich" nach 1933 zurückgreifen. Zudem waren bereits bestimmte "Vorarbeiten" geleistet worden. So gab es, wie der Historiker und Co-Autor Ramon Pils erläutert, zum Beispiel die "Deutsche Ge-meinschaft", die im akademischen Milieu sehr gut verankert war, und schon lange vor dem Anschluss an Hitlerdeutschland Listen von so genannten "ungeraden Personen" geführt hatte, die es - sobald sich die Gelegenheit bot - loszuwerden galt.
Der Boden war bereitet
Durch die ohnehin deutschnationale Ausrichtung vieler Lehrender, erläutern die Herausgeber, erübrigte sich nach 1938 auch in mehreren geisteswissenschaftlichen Fächern eine "Nazifizierung". Vor allem in der Germanistik und Geschichtswissenschaft seien eine entsprechende ideologische Ausrichtung und die dazugehörigen wissenschaftlichen Ansätze bereits lange vor Beginn der NS-Herrschaft etabliert gewesen.
Welche mittel- und längerfristigen Auswirkungen die rassistisch oder politisch motivierte Vertreibung von Lehrenden an der Universität hatte, das zu erforschen bleibt für die Ge-schichtswissenschaft bis auf weiteres ein Desiderat. Ein systematisch gründlicher Vergleich steht bis dato aus.
Sabrina Adlbrecht, Ö1 Wissenschaft