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Modell der ehemaligen Synagoge Kaschlgasse

Kaschlgasse 4: Eine österreichische Geschichte

Über 1.400 Synagogen wurden bei den November-Pogromen vor 72 Jahren von den Nazis zerstört. Eine der wenigen, die die "Reichskristallnacht" in Wien überstanden haben, befindet sich bis heute - unkenntlich - im 20. Bezirk. Als Teil eines Wohnhauses diente sie nach dem Krieg als Parteilokal der Kommunisten, als Tanzstätte eines Trachtenvereins und als Supermarkt.

Zeitgeschichte 10.11.2010

Auf eine "Spurensuche an diesen vergessenen Ort" in der Kaschlgasse 4 begab sich deshalb Dienstagabend eine Veranstaltung, bei der man die Überbleibsel der vor über 70 Jahren verwüsteten Synagoge sehen kann.

Zynische Brandbücher

Die ursprüngliche Idee des veranstaltenden Wiener Wiesenthal Instituts für Holocaust-Studien war es, aus Brandbüchern der Wiener Feuerwehr zu lesen. Die Geschehnisse des November-Pogroms werden darin aus rein brandbekämpfender Sicht, vermeintlich neutral beschrieben.

Fassade der ehemaligen Synagoge Kaschlgasse heute

science.ORF.at - Lukas Wieselberg

Fassade des Eingangs heute

Es sind "lapidare, fast schon zynische Texte", erzählt Bela Rasky, der gemeinsam mit seinem Historikerkollegen Werner Michael Schwarz für das Konzept der Veranstaltung sorgte. "Als Historiker merkt man: Die Fakten sind zwar korrekt, aber eigentlich werden die Geschehnisse der Nacht verschwiegen. Nichts wird erzählt vom HJ-Mob und den johlenden Mengen, von der Gewalt und von den Behinderungen der Löscharbeiten."

Ein einziges Dokument gebe es aus - dem damals zu Wien gehörenden - Mödling, das helfe, der dahinter liegenden Wahrheit auf die Spur zu kommen. Laut dem Protokoll wurde ein nachfragender Brandmeister von der Feuerwehrzentrale aufgefordert, Synagogen brennen zu lassen und nur die umgebenden Häuser zu schützen. Das Protokoll sei das einzige, bei dem sich jemand getraut habe, die Praxis auch aufzuschreiben, so Rasky gegenüber science.ORF.at.

Beschweigen der Geschichte

Bei ihrer Suche nach einem passenden Ort für die Lesung der Brandbücher sind die Historiker auf die ehemalige Synagoge in der Kaschlgasse gestoßen: Sie hätten keinen passenderen finden können.

Innenraum der ehemaligen Synagoge Kaschlgasse heute

science.ORF.at - Lukas Wieselberg

Innenraum der ehemaligen Synagoge heute

"Der Ort hat eine ähnliche Geschichte, er beschweigt das Gewesene. Je mehr wir als Historiker versucht haben, die verschiedenen Schichten aufzudecken, desto mehr sind wir auf die Ungeheuerlichkeit der Zerstörung gestoßen. Es gibt diesen Raum zwar noch, aber die Auslöschung ist augenscheinlicher als dort, wo die Plätze zerstört wurden."

Über die Synagoge ist trotz intensiver Recherche keine vollständige Geschichte bekannt. Das, was die Historiker herausgefunden haben, ist eines aber mit Sicherheit: typisch österreichisch.

"Arisiert" und dann KPÖ als Mieter

Der für Frauen reservierte Balkon in der ehemaligen Synagoge Kaschlgasse

science.ORF.at - Lukas Wieselberg

Modell des für Frauen reservierten Balkons

Die Synagoge in der Kaschlgasse wurde im Juni 1932 eingeweiht. Der seit 1910 registrierte Bethaus- und Wohltätigkeitsverein "Bene Berith" - ursprünglich ein Zusammenschluss galizischer Juden - hatte die Liegenschaft 1920 erworben und den Bau 1931 begonnen.

Im November-Pogrom 1938 wurde die Synagoge verwüstet und geplündert, der Verein "Bene Berith" ("Söhne Israels") zwangsweise aufgelöst, die Liegenschaft danach "arisiert". Über die Nutzung der Synagoge während der NS-Zeit ist laut Rasky nichts bekannt.

Nach Kriegsende vermietete die neue Besitzerin - eine deutsche Ärztin - die Räume und einen großen Teil des Hauses an die Kommunistische Partei Österreichs (KPÖ). Warum sie das tat, ist unklar. Das 1952 eingeleitete Rückstellungsverfahren zugunsten der Israelitischen Kultusgemeinde wurde dadurch jedenfalls verzögert, da die sowjetischen Behörden ihre Zustimmung verweigerten. Erst 1956 wurde das Verfahren abgeschlossen.

Die Schank in der ehemaligen Synagoge Kaschlgasse

science.ORF.at - Lukas Wieselberg

Die Schank im Obergeschoß

Trachtenverein "Schneidiger Hauer"

Die KPÖ blieb bis 1974 Mieter - und fand einen überraschenden Untermieter: den Trachtenverein "Schneidiger Hauer", der bis in die späten 60er-Jahre Tanzveranstaltungen abhielt. Die links zu sehende Schank dürfte aus diesen Tagen stammen, als Volksmusik die Tanzbeine bewegte.

Über den Trachtenverein ist laut den Historikern nichts bekannt, er lässt sich weder einem Bundesland noch politisch zuordnen. Nach Protesten der Hausbewohner wegen des Lärms und auch des einen oder anderen Raufhandels musste das Tanzlokal schließen.

1974 wurde die ehemalige Synagoge für einen Schweizer Diskontmarkt umgebaut, 1989 folgte die Filiale einer österreichischen Supermarktkette, deren Abkürzung für "Billiger Laden" steht. Seit 2009 sind die Räume leer.

Rekonstruktion mit großen Wissenslücken

Rekonstruktion der ehemaligen Synagoge Kaschlgasse, Querschnitt

Bob Martens, Herbert Peter

Perspektivschnitt durch die Synagoge: Rekonstruktion von Bob Martens und Herbert Peter

Aus Anlass des November-Pogroms vor 72 Jahren öffneten sich Dienstagabend wieder die Türen der Kaschlgasse 4. Neben Lesungen und Gesprächen sind auch die Rekonstruktionen der Synagoge zu sehen, die die beiden Architekten Bob Martens und Herbert Peter gemacht haben. Die Modelle lehnen sich an das Aussehen einer Synagoge in Brünn an, die der Wiener sehr ähnlich ist, sagte Bela Rasky.

"Wie die Inneneinrichtung wirklich ausgesehen hat, wissen wir aber nicht. Bemalung, Lampen, Parkett - das ist alles unbekannt." Fest steht: Der Architekt Franz Katlein hat das Wohnhaus samt Synagoge im Bauhausstil geplant, sein Sakralbau im Erd- und Obergeschoß des Hauses bot 600 Gläubigen Platz.

Nur sechs Jahre lang diente es ihnen als Stätte der Begegnung. Wer heute durch die unwirtlichen, dank der Supermarkt-Neonröhren grell beleuchteten Räume geht und die Nachmieter in den 70 Jahren danach Revue passieren lässt, glaubt an das etwas zu dick aufgetragene Werk eines Chronisten. Geschrieben aber hat es die österreichische Wirklichkeit.

Lukas Wieselberg, science.ORF.at

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