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Auge einer Frau.

Blickfeld: Orte mit Geschlecht

Die Wahrnehmung des Geschlechts ist einer Studie zufolge vom örtlichen Kontext abhängig. Je nachdem, wo Gesichter im Blickfeld auftauchen, erhalten sie eine weibliche oder eine männliche Note.

Wahrnehmung 25.11.2010

Schwankende Wirklichkeiten

"Der Glaube, es gebe nur eine Wirklichkeit, ist die gefährlichste Selbsttäuschung." Wollte man die Arbeit des österreichischen Kommunikationswissenschaftlers Paul Watzlawick mit einem Satz zusammenfassen, wäre dieser eine wohl ein guter Kandidat. Watzlawick hat in "Wie wirklich ist die Wirklichkeit" und anderen Büchern immer wieder betont: Wahrnehmungen sind "Konstruktionen", relativ und vom Subjekt geprägt. Objektivität im strengen Sinn gibt es nicht.

Er hatte dabei vor allem die Wahrnehmungen verschiedener Menschen im Sinn, doch neuere Forschungen zeigen: Der Satz gilt sogar für die Wahrnehmungen ein und derselben Person.

Der Harvard-Psychologe Richard Russell wies etwa letztes Jahr nach, dass wir ein androgynes Gesicht als weiblich wahrnehmen, solange der Bildkontrast gering ist. Erhöht man aber den Kontrast über eine bestimmte Schwelle, wird aus dem femininen Gesicht ein männliches.

Geschlechtstrends im Blickfeld

Die Studie

"Spatial Heterogeneity in the Perception of Face and Form Attributes" ist im Fachblatt "Current Biology" (24. November 2010) erschienen.

Noch kurioser ist ein Bericht aus der aktuellen Ausgabe von "Current Biology". Arash Afraz vom McGovern Institute for Brain Research des MIT legte seinen Probanden ein Spektrum von Fotografien vor, das von sehr männlichen Gesichtern bis hin zu sehr weiblichen Gesichtern reichte. Diese ließ er 50 Millisekunden auf einem Bildschirm aufblitzen - in zufälliger Reihenfolge und an zufällig gewählten Orten. Wie Afraz herausfand, ist letzteres für die Geschlechtwahrnehmung keineswegs unwichtig.

Androgyne Bilder ordneten die Testpersonen nämlich ja nach Position im Blickfeld einmal den Männern, ein anderes Mal den Frauen zu. Der Zusammenhang Ort/Geschlecht erwies sich zwar als stabil (etwa: Proband X sieht links oben eher weibliche Gesichter, rechts unten eher männliche). Aber ein übergeordnetes Muster, quasi eine Sexualgeografie des Blickfeldes, ließ sich aus den Daten nicht ablesen. Die regionalen Wahrnehmungstendenzen sind offenbar eine rein individuelle Angelegenheit.

Verzerrung durch neuronale Kleingruppen

Ö1 Sendungshinweis:

Ein Beitrag von Ö1 Dimensionen Magazin widmet sich der menschlichen Wahrnehmung: "Welche Farbe hat Musik?", Fr. 26.11., 19.06 Uhr, Radio Österreich 1.

Afraz glaubt, dass das mit einem statistischen Effekt zu tun hat, den man beispielsweise auch aus Wahlprognosen kennt. Samples von 1.000 Personen oder mehr können die tatsächliche Stimmenverteilung einer Wahl unter Umständen recht gut abbilden. Befragt man indes nur zehn Personen, wird das Ergebnis aller Wahrscheinlichkeit nach verzerrt sein.

Genau das passiert Afraz zufolge auch im Gehirn: Im visuellen Cortex sind Nervenzellen nämlich gruppenweise mit der Verarbeitung von Bildinformationen betraut. Manche davon widmen sich ausschließlich der Repräsentation von Gesichtern - und zwar umso mehr, je größer das Gesicht im Blickfeld erscheint. Nachdem bei Afraz' Versuchen die Bilder lediglich als zwei Zentimeter große Objekte im Blickfeld auftauchten, war die Zahl der betrauten Neuronen eher bescheiden. So dominierten manchmal Zellen das Geschehen, die auf männliche Gesichter ansprechen, und manchmal solche, die feminin gepolt sind.

Derlei geschlechtsspezifische Verzerrungen dürften aber im Alltag keine Rolle spielen. Denn erstens sind reale Gesichter größer, plastischer und verschwinden in der Regel auch nicht nach 50 Millisekunden. Zweitens kann man sich im Zweifelsfall an Frisur und Kleidung orientieren. Zumindest meistens.

Robert Czepel, science.ORF.at

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