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"Nicht mit dem erhobenen Zeigefinger"

Die UNO-Dekade "Bildung für eine nachhaltige Entwicklung" ist zur Hälfte vorbei. Fragen der Nachhaltigkeit sollen durch sie verstärkt in Bildung und Ausbildung berücksichtigt werden, damit Menschen ihr Handeln und dessen Folgen besser reflektieren können.

Bildung 09.12.2010

Bildung für nachhaltige Entwicklung hat das Ziel, Handlungsoptionen aufzuzeigen und den Umgang mit Unsicherheiten zu lernen. Im Interview erklärt der deutsche Kommunikationswissenschaftler Gerd Michelsen, dass Nachhaltigkeit nicht durch Katastrophenpädagogik vermittelt werden sollte und dass das Thema verschiedenen Menschen je nach ihrer Situation auf unterschiedliche Art vermittelt werden muss.

science.ORF.at: Die Menschheit verbraucht immer mehr Rohstoffe, der Klimawandel schreitet voran, die Biodiversität schwindet: Wissen wir zu wenig über Nachhaltigkeit, um es besser zu machen?

Porträt Gerd Michelsen.

Michelsen/Schubert

Der Volkswirt Gerd Michelsen leitet das Institut für Umweltkommunikation an der Universität Lüneburg, ist Mitglied des deutschen UNESCO-Nationalkomitees "Bildung für Nachhaltige Entwicklung", Vorsitzender des Fachausschusses Wissenschaft und Mitglied des Vorstands der Deutschen UNESCO Kommission. Er ist unter anderem Mitherausgeber des Jahrbuchs Ökologie, verschiedener Publikationsreihen und Mitglied im Beirat der Zeitschrift "GAIA".

Gerd Michelsen: Wir wissen nicht zu wenig über einzelne nicht-nachhaltige Entwicklungen, aber wir wissen zu wenig über Zusammenhänge: Wie hängt zum Beispiel Klimawandel mit Biodiversität zusammen oder die Produktion von Biokraftstoffen mit der Ernährungssituation. Wir wissen auch viel zu wenig über persönliche, institutionelle oder politische Handlungsmöglichkeiten. Und wenn Handlungsmöglichkeiten eröffnet werden, scheitert es häufig an uns selbst, zum Beispiel bei der Nutzung des öffentlichen Nahverkehrs statt des Autos bei passenden Gelegenheiten.

Wie muss Bildung aussehen, damit die Gesellschaft nachhaltiger wird?

Bildung für nachhaltige Entwicklung darf nicht mit dem erhobenen Zeigefinger daherkommen. Es darf keine Katastrophenpädagogik sein, wie wir sie aus den 80er- und 90er-Jahren des letzten Jahrhunderts kennen.

Bildung für nachhaltige Entwicklung muss Menschen eine aktive Beteiligung an der Gestaltung gesellschaftlicher Entwicklung ermöglichen: dass sie in der Lage sind, Zusammenhänge zu erkennen, zukünftige Entwicklungen in den Blick zu nehmen und sich persönliche und politische Handlungsmöglichkeiten zu erschließen, den Umgang mit Unsicherheit zu ertragen, Risiken einzuschätzen, begründete Urteile und Entscheidungen treffen zu können.

Wir sprechen in diesem Zusammenhang von Gestaltungskompetenz, die den Menschen vermittelt werden soll, um sich in unserer komplizierten Welt einigermaßen zurechtfinden zu können. Das ist die zentrale Aufgabe von Bildung für nachhaltige Entwicklung.

Warum ändert sich trotz des vielen Wissens manchmal nur wenig im Verhalten der Menschen?

Veranstaltungshinweis:

Am 9. Dezember 2010 ab 18:00 Uhr spricht Gerd Michelsen im Rahmen der Vorlesungsreihe "Mut zur Nachhaltigkeit" in der Österreichischen Nationalbank zum Thema "Welche Bildung brauchen wir? Lebenslanges Lernen für nachhaltige Entwicklung".

Verbindliche Anmeldung und weitere Informationen zu den Veranstaltungen der Vorlesungsrereihe.

Veranstalter der Vorlesungsreihe sind das Zentrum für Globalen Wandel und Nachhaltigkeit der Universität für Bodenkultur, das Lebensministerium und die Initiative Risiko:dialog von Umweltbundesamt und Ö1 in Zusammenarbeit mit der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, der Universität Wien und der Österreichischen Nationalbank mit freundlicher Unterstützung der deutschen Stiftung Forum für Verantwortung.

Die Vortragsreihe fand bereits in den letzten beiden Semestern statt und wird seither mit Interviews in science.ORF.at begleitet, unter anderem mit den folgenden Beiträgen:

Bildung kann und soll niemanden dazu zwingen, bestimmte Verhaltensweisen zu zeigen. Sie kann nur dazu beitragen, darüber nachzudenken, ob das, was man bisher gemacht hat, richtig ist und im Einklang mit dem steht, was in der Welt geschieht.

Verhaltensänderungen zu bewirken, ist ein schwieriges Unterfangen. Voraussetzung ist natürlich Wissen darüber, warum Verhaltensänderungen sinnvoll sind. Aber dieses Wissen allein reicht nicht. Menschen haben sehr unterschiedliche Lebensstile, kommen aus unterschiedlichen Milieus. Hierauf ist Rücksicht zu nehmen. Wir sprechen hier von Anschlussfähigkeit an die Lebenswirklichkeit von Menschen.

Haben Sie da ein Beispiel?

Jemanden gelegentlich vom Autofahren abzubringen, um das Fahrrad zu benutzen, klappt nicht bei allen Menschen auf die gleiche Weise: Die einen reagieren auf Kostenargumente, andere finden, dass Mountainbiken genauso viel Spaß machen kann, wie das Fahren eines Sportwagens.

Wir brauchen allerdings auch Angebote, um uns anders verhalten zu können: zum Beispiel die Möglichkeit des öffentlichen Nahverkehrs. Menschen reagieren auch auf Anreize. Eine Prämie zur Anschaffung eines neuen Kühlschranks kann dazu beitragen, dass Menschen früher auf einen energiesparenden Kühlschrank umzusteigen. Ebenso ist es wichtig, den Erfolg deutlich zu machen, der mit Verhaltensänderungen verbunden ist. Zum Beispiel bei der Stromrechnung: Wenn wir uns vornehmen, Strom zu sparen, brauchen wir kurzfristig Erklärungen über den Einsparungseffekt.

Sie haben gesagt, Bildung darf nicht mit dem erhobenen Zeigefinger daherkommen. Bei Nachhaltigkeit geht es aber oft um Werte und Ziele. Die Forderung, Energie zu sparen und CO2-Emissionen zu reduzieren, ist ja gewissermaßen schon ein erhobener Zeigfinger.

Klar. Zur Bildung gehört zweifelsohne auch die Auseinandersetzung mit Werten. Wir müssen diskutieren, welche Folgen bestimmte Werthaltungen für das eigene Leben, die Mitmenschen und die Gesellschaft haben. Im Rahmen von Bildungskonzepten müssen wir Werthaltungen reflektieren, dürfen aber keine Werte vorschreiben. Die Menschen müssen reflektierte und verantwortungsvolle Entscheidungen treffen können und damit auch handlungsfähig werden.

Wie früh im Leben sollte man mit dem Vermitteln dieses Wissens anfangen?

Ö1-Sendungshinweis:

Mehr zum Thema Nachhaltigkeit im Zusammenhang mit Biodiversität gibt es jeden Montag um 13:55 Uhr in einer Serie zum Jahr der Biodiversität in Wissen Aktuell zu hören.

Der Bildungsprozess ist ein lebenslanger, der nicht zum Abschluss kommt. Wir sollten den Kindern und Jugendlichen im Kindergarten oder in den Schulen Wissen und Kompetenzen vermitteln, die es ihnen ermöglichen, urteilsfähig und handlungskompetent zu werden. Diese Prozesse sollten sich im Studium fortsetzen.

Vermitteln Schulen und Universitäten diese Fähigkeiten derzeit ausreichend?

Es gibt mittlerweile an verschiedenen Unis Studienprogramme, in denen Nachhaltigkeit eine Rolle spielt. Nehmen wir zum Beispiel meine eigene Universität: Die Universität Lüneburg hat sich das Leitbild der Nachhaltigkeit auf die Fahnen geschrieben und hier besuchen alle Studenten im ersten Semester die gleichen Lehrveranstaltungen, ohne dass es eine fachliche Spezialisierung gibt. Im diesem ersten Semester beschäftigt sich ein Drittel der Lehrveranstaltungen mit Fragen der Nachhaltigkeit. Das ermöglicht den Studierenden von Anfang an einen anderen Blick auf das, was sie anschließend in ihrer Disziplin studieren.

Die UN-Dekade "Bildung für nachhaltige Entwicklung" ist zur Hälfte vorbei. Welche Bilanz ziehen Sie?

Mehr zur UN-Dekade "Bildung für nachhaltige Entwicklung" findet sich auf der Seite der Österreichischen UNESCO-Kommission.
Das Institut für Umweltkommunikation der Universität Lüneburg ist seit 2005 der UNESCO-Lehrstuhl für "Higher Education for Sustainable Development".

Ich kann nur den Verlauf aus der deutschen Perspektive schildern: Hier hat es viele unterschiedliche Initiativen und Aktivitäten gegeben, aber der große Durchbruch ist der Dekade bislang nicht gelungen. Die Dekade spielt zwar in Sonntagsreden von Politikern, manchmal auch bei Wirtschaftstreibenden eine Rolle, aber entscheidende bildungspolitische Konsequenzen wurden bislang nicht gezogen.

Es gibt in Deutschland einen Wettbewerb, der sogenannte Dekadeprojekte auszeichnet. In der ersten Dekadehälfte sind über 1.000 Bildungs- und Modellprojekte prämiert worden: zum Beispiel zur Nachhaltigkeit in Schulen oder um Erzieherinnen in Kindertagesstätten zu qualifizieren, sich mit Fragen der nachhaltigen Entwicklung auseinanderzusetzen. Diese Projekte sind allerdings eher von lokaler oder regionaler Reichweite. Die breitere Ausstrahlung wird durch die Vielzahl der unterschiedlichen Projekte erreicht.

Was sollte man in der zweiten Hälfte der Dekade besser machen?

Man muss sich auf die Ausbildung von Menschen konzentrieren, die mit Kindern und Jugendlichen zu tun haben. Fragen der nachhaltigen Entwicklung müssen stärker in ihren Ausbildungskonzepten berücksichtigt werden.

Bildungspolitische Konsequenzen umzusetzen, ist in einem Land wie der Bunderepublik Deutschland allerdings schwierig. Wir sind ein föderaler Staat und 16 Bundesländer sind für Bildungspolitik verantwortlich. Das ist ein Grund, weshalb ein breites Vorgehen schwer zu realisieren ist. Ich bin davon überzeugt, dass es besser wäre, hier zu einer größeren Vereinheitlichung zu kommen.

Mark Hammer, science.ORF.at

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