Beispiel: Gehirntumor führt zu sexueller Obsession
Es ist ganz plötzlich passiert: Ein amerikanischer Lehrer fühlte sich von einem Tag auf den anderen zu Kindern sexuell hingezogen. Er ging seiner pädophilen Neigung zuerst im Internet nach und suchte nach Kinderpornos, später begann er damit, Kinder sexuell zu belästigten.
Es folgte eine medikamentöse Behandlung, ein Rehabilitationsprogramm für Sexsüchtige, und schließlich drohte ihm eine Haftstrafe. Doch dann klagte der Lehrer über Kopfschmerzen und Ärzte untersuchten ihn im Krankenhaus.
Michael Pauen

Humboldt-Universität Berlin
Michael Pauen ist Professor für Philosophie des Geistes an der Humboldt-Universität zu Berlin. Er beschäftigt sich unter anderen mit Konsequenzen der neurowissenschaftlichen Forschung für das Menschenbild und die Ethik.
Die Diagnose: Ein Hirntumor hatte auf eine Region gedrückt, die mit Urteilsfähigkeit, Selbstkontrolle und Sozialverhalten in Verbindung gebracht wird. Die Ärzte entfernten den Tumor, und die sexuelle Obsession des Lehrers verschwand.
"Ganz offensichtlich veränderte sich sein Verhalten wegen neurologischer Abweichungen", resümiert Michael Pauen, Philosoph an der Humboldt-Universität zu Berlin, diesen Fall gegenüber science.ORF.at. "Aber das sind Einzelfälle, und neurowissenschaftliche Erklärungen gelten nicht immer." Meist sei ein Verbrechen einfach nur ein moralisch fragwürdiger Entschluss, zum Beispiel wenn jemand eine Bank ausraubt oder einen anderen betrügt.
Veranlagung zur Psychopathie angeboren?
"Neurowissenschaften spielen in der Verbrechensaufklärung keine große Rolle, außer es handelt sich tatsächlich um eine Tat, die eindeutig auf bestimmte Schädigungen des Gehirns zurückgeführt werden kann", erklärt der Grazer Rechtsphilosoph Peter Strasser.
Peter Strasser

Universität Graz
Peter Strasser ist Professor am Institut für Rechtsphilosophie, Rechtssoziologie und Rechtsinformatik an der Karl-Franzens-Universität Graz. Er befasst sich unter anderem mit philosophischen Grundlagen der Kriminologie und bioethischen Fragen.
"Neurowissenschaftler hoffen aber natürlich, dass sich der Zusammenhang zwischen Gehirnzuständen und der Neigung zu asozialem Handeln immer exakter wird bestimmen lassen." Es herrsche die Auffassung vor, dass die Veranlagung zur Psychopathie angeboren ist.
"Aber ehrlich gesagt, sehe ich bei dieser Auffassung einige Gefahren: Im schlimmsten Fall kann es dazu führen, dass man Menschen als geborene Verbrecher diagnostiziert und sie ihrer Freiheit beraubt, noch bevor sie überhaupt ein Verbrechen begangen haben." Resozialisierende Maßnahmen würden so als weitgehend ineffektiv zurückgewiesen werden, "und das ist meines Erachtens nach ein Desaster für die Mitmenschlichkeit", so Strasser.
Wann beginnt die Schuldunfähigkeit?
Es gibt biologische, psychologische und soziologische Theorien, um zu erklären, wie es zu einem Verbrechen kommen kann. Heute überwiegen die multidisziplinären Betrachtungsweisen, d.h. Verbrechen gelten als Resultat vieler Ursachen.
Es können Erziehung, Traumata oder psychische Störungen sein, die dazu beitragen, dass ein Mensch kriminell wird. Manche Verbrechen können aber auch neurobiologische Ursachen haben.
"Das Problem der Justiz besteht darin, ab welchem Punkt der Rechtsstaat bereit sein sollte, Schuldunfähigkeit einzuräumen", so der Rechtsphilosoph Strasser.
Das Dilemma der Bestrafung
Kann ein Neurowissenschaftler also die Tat eines Sexualstraftäters mit dem Argument "er konnte nicht anders, es ist neurobiologisch bedingt" rechtfertigen, und damit auch eine Strafmilderung fordern?
"Ginge es um meine Tochter, hätte ich natürlich das Bedürfnis nach Vergeltung. Aber wenn man es aus einer differenzierten Perspektive betrachtet, ist es nun einmal so, dass Personen, deren Taten neurobiologische Ursachen haben, nur eingeschränkt straffähig sind. Das ist ein Dilemma, denn die Menschen wären empört, wenn ein Sexualstraftäter nicht bestraft werden würde", erklärt Michael Pauen.
Es sei dann die Aufgabe des Rechtsstaats, gegen aufflammende Rachebedürfnisse Widerstand zu leisten, meint Strasser. Besonders grausame Verbrechen werden besonders stark bestraft. "Besser wäre es aber, zu versuchen, Störungen zu verstehen, um sie therapieren zu können", glaubt auch Pauen.
Einschränkung des freien Willens?
Ö1 Sendungshinweis:
Anwendungen der Neuroforschung widmet sich das Ö1 Radiokolleg ab 31.1., 9:30 Uhr.
Das Verhalten kann sich also, wie der Fall des US-Lehrers zeigt, auf Grund neurobiologischer Ursachen verändern. "Wenn es aber überhaupt keine Tat ohne neurologische Determination gäbe, gäbe es auch nicht die Möglichkeit anders zu handeln, als man eben handelt - und alles hängt schließlich an der Frage, ob es so etwas wie Willensfreiheit gibt", so der Rechtsphilosoph Strasser.
Und diese Frage ist seit Jahren unter Neurobiologen und -philosophen umstritten. In der Tradition des berühmten Experiments von Benjamin Libet haben etwa Hirnforscher um John-Dylan Haynes vom Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften vor zwei Jahren in einer Studie gezeigt, dass eine Entscheidung im Gehirn bereits zehn Sekunden, bevor wir sie bewusst treffen, feststeht. .
"Wenn das Gehirn fast zehn Sekunden lang die Vorbereitungen für eine Entscheidung trifft, bleibt nicht mehr viel Spielraum für den freien Willen", erklärt Haynes. Die Trefferquote seines Experiments war allerdings nicht sehr hoch: Nur in 60 Prozent der Fälle waren die Vorhersagen richtig. Trotzdem hält Haynes die Existenz des freien Willens für unplausibel.
Der Philosoph Pauen sieht das hingegen ganz anders. Er ist davon überzeugt, dass es den freien Willen gibt. "Es sind neuronale Prozesse, dank derer ich denken kann. Das schränkt die Freiheit aber nicht ein, sondern begründet sie."
Christine Baumgartner, science.ORF.at
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