Von unten nach oben: Neue Codes
Von Peter Alheit
Über den Autor:

IFK
Peter Alheit, als Pädagoge, Soziologe und Kulturwissenschaftler international bekannt geworden durch seine biographischen Forschungen, ist Professor an der Universität Göttingen und aktueller Senior-Fellow des IFK.
Vortrag zum Thema in Wien:
Am 10.1. hält Alheit einen Vortrag mit dem Titel "Versteckte Avantgarde".
Ort: IFK Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften, Reichsratsstraße 17, 1010 Wien; Zeit: 18 Uhr c.t.
Ein interessantes Beispiel entdecken wir bereits in den späten 1950er Jahren. Jugendliche aus proletarischen Milieus, sogenannte "Halbstarke", verändern etwa in Deutschland oder in Österreich das gesellschaftliche Klima. Kaspar Maase beschreibt in einer ebenso amüsanten wie überzeugenden Analyse der Jugendzeitschrift Bravo eine Entwicklung, die nur vordergründig als "Amerikanisierung" interpretiert werden kann, tatsächlich jedoch geradezu als Prozess der "Zivilisierung" der deutschsprachigen Nachkriegsgesellschaften gelesen werden muss.
Und Zivilisierung bedeutet nicht nur eine Wendung zur Ironisierung des Militarismus und eine deutliche Distanz zu den typisch deutschen soldatischen Tugenden, sondern - positiv - eine neue Wertschätzung des Lockeren, Lässigen, Coolen, jenes Habitus, der in unterschiedlichen Schattierungen von den rebellischen Idolen des jungen amerikanischen Films der 1950er Jahre, idealtypisch von Marlon Brando und James Dean verkörpert wird.
Und es ist erstaunlich, dass der von Jugendlichen der Unterschicht eingeleitete Informalisierungsprozess nicht rückgängig gemacht werden kann. Die phantasielos kleinbürgerlichen und pädagogisch gemeinten öffentlichen Verarbeitungsversuche - etwa in den Kinofilmen "Die Halbstarken" oder "Der Jugendrichter" - verstärken und verbreiten den Effekt.
Zunehmend durchdringen die neuen Codes die kulturellen Orientierungen der Gesamtgesellschaft und breiten sich von unten nach oben aus: Das Teenager-Phänomen und die Beatles-Euphorie der frühen 1960er Jahre erreichen die Mittelschichten und vor allem auch weibliche Jugendliche. Aber selbst die Zivilisierung der Mode, der Siegeszug der Jeans und der Sport- und Freizeitkleidung bestätigen die heimliche Wirkung eines kulturellen "Code-Switching" auf die westdeutsche, auch auf die österreichische Nachkriegsgesellschaft.
Protest verringert das Machtgefälle
Informalisierung ist freilich ohne erfolgreiche, wenn auch subtile Protestformen nicht durchsetzbar gewesen. Sie wird immer von Egalisierungserscheinungen begleitet und dokumentiert, wie Norbert Elias beschreibt, einen "Schub der Verringerung des Machtgefälles" zwischen Regierenden und Regierten, zwischen Männern und Frauen, zwischen Eltern und Kindern, zwischen Lehren und Schülern, "zwischen dem gesamten Staatsestablishment und der großen Masse der Außenseiter".
In Deutschland und Österreich ist dieser Prozess durch Bricolagen im Bereich der Alltagskultur eingeleitet worden und zweifellos nicht erst durch die Studentenrevolte. Wahrscheinlich waren "Elvis-Tolle" und "Pony-Fransen" am Ende der 1950er Jahre ein ebenso gewagter Protest gegen herrschende Werthaltungen wie "Sit-in" und "Anti-Springer-Demo" in den späten 60ern. Die "freie Stirn"“ und der "offene Blick" sind aus HJ und BDM nachwirkende Symbole der Unterordnung.
Eine Tolle, die die Stirn beschattet, das Pony der Mädchen, gar die Sonnenbrillen, die das Kontrollverhältnis umdrehen - all dies sind Mittel zum Abbau von Machtdifferenzen im Medium des Blicks. Hier wird Protest konkret. Vieles spricht dafür, dass die ambitionierte politische Kultur der Studenten die gewiss ambivalenten Effekte einer modernen, industrialisierten "Massenkultur" nur beerbt hat. Die Informalisierung der Alltagskultur ist eine Voraussetzung der 68er Revolte. Eine "versteckte Avantgarde" bekommt nachträglich ein Gesicht.
Der "kommende Aufstand"
Literaturhinweise:
Was bedeutet eigentlich "Avantgarde"?
Peter Bürger, Theorie der Avantgarde, Frankfurt am Main 1974: Suhrkamp
Zivilisierungsprozesse im 20. Jahrhundert
Norbert Elias, Studien über die Deutschen, Frankfurt am Main 1989: Suhrkamp
Peter Alheit, Zivile Kultur, Frankfurt und New York 1994: Campus
Versteckte Avantgarden im 21. Jahrhundert?
Unsichtbares Komitee, Der kommende Aufstand, Hamburg 2010: Edition Nautilus
Auch die 1970er und 1980er Jahre sollten gerade unter dem Aspekt der "bescheidenen Avantgarde" nicht unterschätzt werden: Die Entstehung der Bürgerinitiativen, der neuen Frauenbewegung, der Ökologiebewegung, der Friedensbewegung ist bemerkenswert und nachhaltig.
Auch die Montagsdemonstrationen in der späten DDR und die große Manifestation der Schriftsteller und Künstler am 4. November 1989 auf dem Alexanderplatz - fünf Tage vor dem Mauerfall - sind phantastische Beispiele einer sich entfaltenden Zivilgesellschaft. Nur, hat das ähnliche "Klimaveränderungen" zur Folge wie jener Ziviliiserungsschub der späten 1950er Jahre?
Tatsache ist, unsere Gesellschaften sind brutaler geworden und keineswegs ziviler. Die sozialen und ökonomischen Unterschiede vergrößern sich drastisch. Das letzte Jahrzehnt des vergangenen Jahrhunderts und das erste des neuen sind die neoliberalen Dekaden par excellence. Der "Turbo-Kapitalismus" dominiert auf ganzer Front, bricht in sich zusammen und profitiert noch aus der Niederlage. Und die Politik scheint - weltweit - keine Mittel zu haben, ihn zu zähmen.
Ist es da nicht geradezu folgerichtig, dass ein "unsichtbares Komitee" sich auf den "kommenden Aufstand" vorbereitet (so ein anarchistisches Manifest, das aus Frankreich kommt)? Dass eine Internet-Plattform entsteht, die militärische und außenpolitische Geheimnisse der mächtigsten Nation der Welt für jedermann zugänglich macht? Was die französischen Revoluzzer wollen und was WikiLeaks bereits realisiert - ist das nicht exakt, was analytisch unter "versteckter Avantgarde" verstanden werden könnte?
"Hebammen des Modernismus"
Die Analyse dieser Phänomene ist noch nicht abgeschlossen, aber sie fördert widersprüchliche Ergebnisse zu Tage. Dennoch, gerade die Hacker-Szene zeigt, dass Avantgarden in der späten Moderne versteckter und doch zugleich wirkungsvoller auftreten als die an Genies orientierten Avantgarden der klassischen Moderne. Ein sympathisches Beispiel kommt aus dem aktuellen Wien: Das Projekt "sirene Operntheater", 1998 aus der Zusammenarbeit von Kristine Tornquist und Jury Everhartz entstanden, definiert sich - gleichsam über die Gruppe der kreativen Mitgestalter - als "versteckte Avantgarde":
"Die Versammlung von Künstlern oder Denkern um ein gemeinsames Feuer, um einen gemeinsamen Topf ist - entgegen dem Klischee vom genialen Einzelgänger - eine der Qualitäten, die in der Kunst- und Kulturgeschichte immer wieder ins Auge sticht. Die Magie der Gruppe - der erklärten wie der assoziativen - ist eine treibende Kraft. In der Gruppe verdichten sich Ahnungen zur Idee, die Gruppe treibt Ideen und treibt den einzelnen innerhalb der Gruppe vorwärts, in ein gemeinsames Zentrum (oft dann auch wieder hinaus, wenn es zu eng wird), aber wirkt in jeder Richtung als Katalysator individueller und geteilter Entwicklung."
Dies ist ein gelungenes und ermutigendes Beispiel im Wien von heute. Wie solche "versteckten Avantgarden" im 21. Jahrhundert prinzipiell aussehen könnten, ob sie "wichtige Hebammen des Modernismus" sind, wie Steve Watson glaubt, oder "tragende Geflechte für innovative Aufbrüche", wie Wolfgang Kos voller Emphase erhofft, ist freilich keine Frage der soziologischen Prognose, sondern der realen, politischen, sozialen, literarischen und künstlerischen Praxis.
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