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Porträt von Bertha Pappenheim

"Ihre Krankheit war Wien"

Als "Anna O." ist sie in die Geschichte eingegangen: Hinter der berühmtesten Fallgeschichte der Psychoanalyse, die laut Freud erst ihre Methode begründet hat, steht Bertha Pappenheim - eine tief religiöse Jüdin, die als Schriftstellerin, Übersetzerin und Sozialarbeiterin religiöse Traditionen für feministisches Engagement genutzt hat.

Anna O. 17.01.2011

Dass sie vielleicht weniger an Hysterie als an den sozialen Umständen ihrer Heimat Wien litt, erzählt die Historikerin Louise Hecht in einem science.ORF.at-Interview. Hecht hält am Montag einen Vortrag, bei dem sie v.a. auf die Strategien eingeht, die Pappenheim als feministische Übersetzerin in einem konservativen Umfeld gewählt hat.

science.ORF.at: Die Welt kannte sie unter drei Namen: Anna O., Bertha Pappenheim und P. Berthold - welcher Name trifft sie am stärksten?

Porträtfoto von Louise Hecht

IFK/privat

Louise Hecht ist Senior Lecturer für Jüdische Geschichte am Kurt-und-Ursula-Schubert-Institut für Jüdische Studien an der Palacký Universität, Olmütz und zurzeit Senior Fellow am IFK in Wien.

Louise Hecht: Zweifellos Bertha Pappenheim. Das von Joseph Breuer und Sigmund Freud erfundene Pseudonym "Anna O." beschreibt nur die die kurze Spanne von zwei Jahren ihres 77-jährigen Lebens. "Anna O." würde ihre Leistungen als Sozialarbeiterin, Schriftstellerin und Übersetzerin schmälern und sie auf ihre Krankheitsgeschichte reduzieren. Beim Pseudonym "P. Berthold", unter dem sie rund zehn Jahre publiziert hat, handelt es sich um eine damals übliche Strategie von Frauen, einen geschlechtsneutralen Namen zu verwenden, um sich in der Gesellschaft nicht zu sehr zu exponieren.

Anna O. soll den Begriff der "Redekur" ("talking cure") erfunden und damit die Psychoanalyse mitbegründet haben ...

Freudforscher haben längst bewiesen, dass es sich dabei um einen retrospektiv hergestellten Mythos handelt. Pappenheim war nach der Behandlung durch Josef Breuer nicht geheilt, das geschah erst Jahre später, lange nach der talking cure. Ein amerikanischer Historiker hat es etwas polemisch so formuliert: Pappenheims Krankheit war Wien. Sobald sie von dort nach Frankfurt übersiedelt ist, konnte sie ihr Leben als Sozialarbeiterin, Feministin und Übersetzerin beginnen und ihre Symptome hinter sich lassen.

Dennoch: Wie lautet der offizielle Gründungsmythos genau?

Vortrag zum Thema in Wien:

Am 17.1. hält Louise Hecht einen Vortrag mit dem Titel "Übersetzungen jüdischer Tradition. Bertha Pappenheims religiös-feministische Schriften".

Ort: IFK Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften, Reichsratsstraße 17, 1010 Wien; Zeit: 18 Uhr c.t.

Pappenheim litt unter verschiedenen Symptomen, die während der Pflege ihres kranken Vaters und vor allem nach dessen Tod manifest wurden: Lähmungserscheinungen, Seh- und Sprechstörungen. Breuer wurde ihr Arzt und hypnotisierte sie, ein umstrittenes, aber damals sehr modisches Behandlungsmittel. Während der Hypnose hat sie begonnen, Geschichten zu erzählen, von denen sich herausgestellt hat, dass sie die Ursachen für gewisse Symptome waren.

Als sie aus der Hypnose aufgewacht ist, waren die Symptome verschwunden, was sie beide zu dem Schluss brachte, dass man gewisse Leiden durch Aberzählen der Ursprungsgeschichte heilen könnte. Der Begriff der "talking cure" stammt von Pappenheim, wie Breuer in den "Studien zur Hysterie" schreibt. So war es zwar nicht wirklich, aber es war eine wunderbare Geschichte, um eine neue Methode zu etablieren.

Wann stellte sich heraus, dass Pappenheim und Anna O die gleiche Person ist?

Freud und Breuer haben das sorgfältig geheimgehalten, es war Ernest Jones, der erste Freud-Biograf, der das 1953 aufgedeckt hat. Pappenheim war zu dem Zeitpunkt schon lange tot, viele Mitarbeiter und Verwandte haben dennoch mit großer Empörung reagiert. Wobei Jones eigentlich ihren Verdienst bei der Erfindung der psychoanalytischen Methode hervorheben wollte. Feministinnen haben gefürchtet, dass "Anna O." die Leistungen der Bertha Pappenheim überschatten würde, und genau das ist auch passiert.

Wie hat sich Pappenheim später selbst zur Psychoanalyse verhalten?

Es gibt eine Notiz von ihr, die besagt: "Die Psychoanalyse in der Hand des Arztes ist wie die Beichte in der Hand des katholischen Priesters. Sie kann zum Nutzen oder zum Schaden der Patienten eingesetzt werden." D.h. die Methode gibt dem Arzt eine große Macht, die auch missbraucht werden kann.

Viele Forscher haben in den vergangenen Jahrzehnten versucht, in Pappenheims Leben Beweise für oder gegen den Gründungsmythos der Psychoanalyse zu finden. Was sehr spekulativ ist, weil sie ihre Dokumente aus der Wiener Zeit von der Geburt 1859 bis 1888 vernichtet hat.

Was ist da der Stand der Dinge?

Elizabeth Loentz, die letzte Pappenheim-Biografin, hat das sehr treffend "Palaeodiagnose" genannt. Da es kaum Fakten gibt, ist die Bandbreite der Diagnosen groß: Sie reicht von gespaltener Persönlichkeit bis zu schwerer Depression und wird rückwirkend aufgrund ihres Schaffens gestellt.

Es gibt dazu zwei Thesen. Die eine ist antifeministisch und besagt, dass Pappenheims Engagement in der Frauenbewegung nur ihre hysterischen Symptome fortsetzt; alle Emanzen hätten psychische Probleme, denn sonst würden sie ja ein normales Leben führen.

Die feministische Interpretation lautet: Sowohl Hysterie als auch feministisches Engagement waren Formen des Protests gegen die soziale Diskriminierung von Frauen. Auf der einen Seite ging der Protest nach innen und war potenziell selbstzerstörerisch, auf der anderen Seite aktionistisch und öffentlich.

Ich nehme an, sie hängen eher der zweiten Interpretation an?

Pappenheim stammte aus einem "streng-jüdischen und orthodox-bürgerlichen" Elternhaus, wie sie es selbst genannt hat, hat sich aber gegen beide Traditionen aufgelehnt. Gegen die bürgerliche, weil sie nie geheiratet und Kinder bekommen hat. Und gegen die jüdische, indem sie zwar immer nach dem jüdischen Religionsgesetz gelebt, aber die Unterdrückung der Frau in diesem Gesetz öffentlich stark thematisiert hat.

Sie hat sich etwa gegen Prostitution und Mädchenhandel engagiert und dabei auch die Rolle jüdischer Zuhälter angesprochen. Obwohl sie der jüdischen Tradition lebenslang verbunden war, hat sie diese auch immer kritisiert, sich für das passive und aktive Wahlrecht von Frauen in den jüdischen Gemeinden eingesetzt etc.

Wie hat sie privat gelebt?

Es wurde spekuliert, dass sie lesbisch war, das ist aber genauso wenig belegt wie etwaige Beziehungen zu Männern.

Was hingegen klar ist: Pappenheim hat 1907 bei Frankfurt ein Heim für "gefährdete Mädchen" gegründet, in das sie ausstiegsbereite Prostituierte aufgenommen hat, dazu ledige Mütter mit Kindern und Pogromwaisen aus Russland. In diesem Heim hat sie eine Frauengemeinschaft aufgebaut, die Frauen, Mädchen und Pflegerinnen haben in quasi-familiären Gemeinschaften gelebt.

Ihr zweites Lebensprojekt war die Gründung des Jüdischen Frauenbundes in Deutschland 1904, die in Relation größte Frauenorganisation des Landes.

Was war so anziehend an dem Frauenbund?

Eine Kombination von Pappenheims persönlichem Charisma und dem Programm, das einerseits klar feministisch, aber nicht zu radikal war. Sie war zwar für das Wahlrecht, hat aber immer den Unterschied von Männern und Frauen betont. Obwohl selbst kinderlos hat sie die Mutterrolle der Frau unterstrichen, auch konservative Frauen konnten sich so identifizieren.

Dazu kam die Sozialarbeit des Frauenbundes - ein Bereich, der aus der traditionellen jüdischen Wohltätigkeit entstand und in dem sich auch Frauen öffentlich engagieren konnten. Pappenheim hat die traditionelle jüdische Wohltätigkeit modernisiert und in Sozialarbeit umgewandelt.

Sie beschäftigen sich vor allem mit der Übersetzerin Pappenheim: Was war da besonders bedeutsam?

Sie hat u.a. "Eine Verteidigung der Rechte der Frau" von Mary Wollstonecraft aus dem Englischen und drei Werke aus dem Jiddischen übersetzt. Darunter waren die sogenannte Frauenbibel und die Memoiren der Glückel von Hameln vom Beginn des 18. Jahrhunderts - ein seltenes Zeugnis jüdischen Frauenlebens dieser Periode. Pappenheim hat sie 1910 übersetzt, in deutsche Schrift transkribiert, und damit - zumindest theoretisch - einem breiten Publikum zugänglich gemacht.

Theoretisch, weil die Auflage im Verlag ihres Bruders sehr niedrig war. 1913 hat Alfred Feilchenfeld eine weitere Übersetzung vorgelegt: stark gekürzt, viele Geschichten und moralische Legenden fehlten, das Buch war aber sehr erfolgreich. Das Problem dabei: Die gekürzten Stellen haben gezeigt, wie gebildet Glückel war, dass sie z.B. viele Geschichten aus der rabbinischen Tradition kannte.

Feilchenfeld lieferte das Porträt einer sehr engagierten Mutter und Geschäftsfrau, die sich v.a. um die Verheiratung ihrer Kinder kümmerte, und das war das Bild, das die Leser und Leserinnen zu Beginn des 20. Jahrhunderts sehen wollten. Deswegen war die Biografie so erfolgreich, und die von Pappenheim ist in Vergessenheit geraten, bis sie 1994 von Viola Roggenkamp neu aufgelegt wurde.

Ihr Resümee von Pappenheims Übersetzungen?

Sie hat versucht, religiöse Traditionen für das feministische Engagement ihrer Zeit nutzbar zu machen. Bei der Übersetzung religiöser Texte hat sie nicht nur transliteriert, sondern ist auch bestimmten Traditionen gefolgt. Je höher die religiöse Relevanz des Textes war, desto vorsichtiger hat sie redaktionell und übersetzungstechnisch eingegriffen, d.h. sie hatte starken Respekt vor der religiösen Autorität der Texte.

Interview: Lukas Wieselberg, science.ORF.at

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