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Zahlen vor blauem Hintergrund

Eine Sprache ohne Zahlen

"Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt", wusste Ludwig Wittgenstein. Psychologen scheinen das zu bestätigen: Sie berichten von Gehörlosen, die nicht weiter als bis drei zählen können - vermutlich deshalb, weil ihre Zeichensprache keine Begriffe für Zahlen kennt.

Kulturwissenschaft 08.02.2011

Begriff und Konzept

"Sieben" - das kann bedeuten: Ein Wort, das für eine Zahl steht. Und das Konzept der Zahl selbst, die in das Zählen eingebettete Repräsentation eines Wertes. Für Bewohner der westlichen industrialisierten Welt ist es schwer vorstellbar, dass das Konzept ohne das Wort nicht sein könnte. Aber Studien an indigenen Völkern Amazoniens legen genau das nahe: Die Mundurukú und die Pirahã haben in ihrer Sprache kaum Begriffe für Zahlen, die Mundurukú besitzen keine Wörter für Zahlen größer als fünf, die Pirahã gar keine (oder zumindest fast keine).

Und beide Völker haben, das zeigen Versuche, auch keine präzise Vorstellung davon, was eine Zahl ist. Zählen ist ihnen fremd. Gleichwohl könnte man einwenden: Vielleicht deshalb, weil sie das Konzept in ihrer Lebenswelt gar nicht brauchen. Möglicherweise ist die Absenz des Zählens einfach dem kulturellen Kontext, den Lebensumständen geschuldet - und daher nur indirekt vom Vokabular abhängig.

Zeichensprache ohne Zahlen

Die Studie

"Number without a language model" ist im Fachblatt "PNAS" erschienen (doi: 10.1073/pnas.1015975108).

Um zu entscheiden, ob die erste oder die zweite Hypothese zutrifft, bräuchte es Testpersonen, die zwar in einer numerischen Kultur leben, doch die Begriffe für Zahlen nicht kennen. Solche Leute sind zweifelsohne schwer aufzutreiben. Aber es gibt sie, wie ein Team um Elizabet Spaepen von der University of Chicago in einer aktuellen Studie berichtet.

Spaepen hat nun mit Kolleginnen Versuche mit vier gehörlosen Nicaraguanern durchgeführt, die zeitlebens keine Schule besucht haben, weder sprechen können noch eine offizielle Zeichensprache erlernt haben. Alles, was sie für ihre tägliche Kommunikation verwenden, sind selbst erfundene Gesten.

Die Gehörlosen leben zwar in einer numerischen Kultur, aber ihre begrenzte Sprachwelt ist frei von Zahlenbegriffen. Und diese eigenartige Diskrepanz hat auch auf der kognitiven Ebene Spuren hinterlassen. Wie die US-Forscherinnen berichten, können die vier zwar mit Geld umgehen. Sie wissen etwa, dass ein 10-Córdoba-Geldschein weniger wert ist als ein 20-Córdoba-Schein. Doch sie haben Schwierigkeiten, wenn es um den genauen Umgang mit Zahlen geht, besonders dann, wenn dieser Umgang nichts mit Geld zu tun hat.

Scheitern im Experiment

Spaepen zeigte den Probanden beispielsweise animierte Kurzfilme, in denen Zahlen eine entscheidende Rolle für das Verständnis des Plots spielten. Beim gestischen Nacherzählen unterliefen den Getesteten aber regelmäßig Fehler. Sie verwendeten zwar ihre Finger, um die Zahlen darzustellen, die angezeigte Zahl war aber selten korrekt. Ähnlich lief ein Versuch mit Kärtchen, auf denen Bälle und andere Dinge zu sehen waren. Bis zu drei Objekte konnten die Probanden relativ verlässlich darstellen, ab vier stieg die Fehlerquote sprunghaft an.

Dass diese Überforderung direkt von der Sprache abgeleitet sein dürfte, zeigen Versuche mit zwei Kontrollgruppen. Spanisch sprechende Nicaraguaner ohne Schulbildung und gehörlose US-Amerikaner, die eine offizielle Zeichensprache erlernt hatten, zeigten derartige Defizite nicht. Zählen kann nur, das schließen zumindest Spaepen und ihre Kolleginnen, wer auch Begriffe dafür hat.

Robert Czepel, science.ORF.at

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