Standort: science.ORF.at / Meldung: "Geraubte Bücher an Österreichs Universitäten "

Bibliotheksbücher der NB auf einem Tisch

Geraubte Bücher an Österreichs Universitäten

Seit 2004 beschäftigt sich ein Forschungsprojekt an der Universitätsbibliothek Wien mit unrechtmäßig erworbenen Bücherbeständen während der NS-Zeit. Noch immer finden sich geraubte Bücher in Beständen wissenschaftlicher Bibliotheken in ganz Österreich. Doch die Frage nach Rückerstattung ist oft nicht leicht zu klären.

Zeitgeschichte 25.02.2011

science.ORF.at begab sich mit Maria Seissl, Leiterin der Universitätsbibliothek Wien, und Markus Stumpf aus der Forschungsgruppe Provenienzforschung auf Spurensuche.

Der Fall Bühler

Karl und Charlotte Bühler gründeten 1922 das Institut für Psychologie in Wien. Das Ehepaar lehrte an der Universität Wien, verlor jedoch seinen renommierten Status: Aufgrund von Charlottes jüdischer Herkunft wurden die beiden nach dem „Anschluss Österreichs“ ihrer Lehrstühle enthoben. Das Ehepaar emigrierte 1940 nach Oslo. 2007 finden sich in der heutigen Fakultätsbibliothek der Psychologie in Wien über 100 Bücher mit handschriftlichem Namenszug aus dem Privatbestand der Bühlers. Dass es sich dabei um freiwillige Schenkungen handelte, kann ausgeschlossen werden.

Wie die Bücher in Universitätsbesitz gelangt sind, und wie mit ihnen umgegangen werden soll, ist Gegenstand der Provenienzforschung.

Provenienzforschung österreichweit

Zu den Personen

Maria Seissl ist seit 2004 Direktorin der Universitätsbibliothek Wien.

Markus Stumpf ist Leiter der Fachbereichsbibliothek Zeitgeschichte und Osteuropäische Geschichte an der Universität Wien und Mitarbeiter Leiter des Forschungsprojekts Provenienzforschung der UB Wien

Während der Zeit des Nationalsozialismus gelangten in ganz Österreich beschlagnahmte oder zwangsverkaufte Bücher in den Besitz staatlicher Bibliotheken. Rechtmäßig stünden diese Ausgaben den ursprünglichen Besitzern oder deren Erben zu. Unter den Universitätsbibliotheken widmete Wien sich dem Problem zuerst. Daraus habe sich jedoch bald „eine Sogwirkung entwickelt“, meint Maria Seissl, Direktorin der Universitätsbibliothek Wien.

Die Untersuchung der Herkunft von Beständen, speziell für die Zeit zwischen 1938 und 1945, findet mittlerweile in ganz Österreich an Universitätsbibliotheken statt. Daneben gilt es jedoch auch, aufklärende Recherchen in Landesbibliotheken oder Amts- und Behördenbibliotheken durchzuführen. Schritte in diese Richtung fanden bereits an der Wienbibliothek im Rathaus und der Parlamentsbibliothek statt.

An der Universität Wien (inklusive aller Fakultäten) sind, nach dem derzeitigen Recherchestand, etwa 5.000 Exemplare restitutionswürdig. Bei weiteren 6.000 Bänden gehe man Hinweisen nach. Ursprünglich begann man mit der Hauptbibliothek, schon bald wurde jedoch klar, dass der Bogen weiter gespannt und auch ein genauer Blick auf Fachbereichs- und Institutsbibliotheken geworfen werden müsse.
„Die eigentliche Arbeit kommt jedoch erst nach der Erhebungsphase“, meint Seissl. Besitzansprüche und mögliche Erben müssen ausgeforscht werden, da die ursprünglichen Besitzer oft gar nicht mehr am Leben seien.

Gestapo lieferte Bücher an Unibibliotheken

Zahlreiche wissenschaftliche Bibliotheken in Österreich profitierten von geraubten Buchbeständen. Die illegalen Erwerbungen ergaben sich dabei aus Verkäufen, Zwangsversteigerungen und auch Beschlagnahmungen von privaten oder institutionellen Buchsammlungen durch die Gestapo. Teilweise gelangten sogar Bücher aus den von der Wehrmacht besetzten Gebieten auf diese Weise nach Wien. Die erbeutete Literatur wurde oft an wissenschaftliche Bibliotheken geliefert.

Auch an der Unibibliothek Wien lasse sich feststellen, dass die Gestapo als Zulieferer tätig war. „Wie jedoch der Handlungsspielraum war, das heißt ob die Bibliothek zum Beispiel auch selbst Anfragen nach Büchern an die Gestapo stellte, lässt sich leider nicht mehr nachvollziehen“, sagt Markus Stumpf, Leiter der Fachbereichsbibliothek Zeitgeschichte und Osteuropäische Geschichte.

Auch auf legale Weise erwarben Bibliotheken Bücher, die heute restitutionswürdig erscheinen. Zumeist handelte es sich dabei um Ankäufe aus Antiquariaten, so Stumpf. „Sobald wir in irgendeiner Form einen Opferstatus feststellen können, geben wir die Bücher zurück, auch wenn wir sie quasi legal gekauft haben.“

Weg des Buches oft unklar

Trotz Inventarbüchern der Bibliotheken, in denen die Herkunft eines Buches verzeichnet wurde, ist die Frage nach unrechtmäßigem Erwerb nicht immer gleich zu beantworten. Institute werden geschlossen, und ganze Sammlungen gehen in andere Bibliotheken über. Dies bedeutet mühsame Detailarbeit. Oft müssen tausende Bände buchstäblich durchblättert werden, um auf Anzeichen von privaten Vorbesitzern zu stoßen. „Ein Stempel oder ein Exlibris macht es verhältnismäßig leicht“, erklärt die Direktorin der Universitätsbibliothek Wien. „Wenn wir aber nur handschriftliche Vermerke finden, gestaltet sich die Suche sehr schwierig.“

Auch komplette Sammlungen, die in den Bestand von Instituten übergingen, sollen zurückgegeben werden, wie zum Beispiel im Fall der „All Peoples‘ Association“ (APA).
Dieser britische Kulturverein zur Verständigung zwischen den Völkern war während den 1930er Jahre weltweit aktiv und konzentrierte sich insbesondere auf die anglo-deutschen Beziehungen. Dazu gehörten Vortragsreihen und auch die Einrichtung von Bibliotheken. Der APA-Bestand von insgesamt 1.777 Bänden wurde an die Fachbereichsbibliothek Anglistik in Wien übergeben, nachdem die österreichische Niederlassung des Vereins zwangsweise geschlossen und das Vermögen an die NSDAP übergeben worden war.

„Das Problem ist“, so Markus Stumpf, „dass es keinen Rechtsnachfolger des Vereins mehr gibt.“ Restitutionsmöglichkeiten in solchen Fällen bestünden dennoch: Es bedürfe nun eines Schätzgutachtens über den Wert der Sammlung, um gegebenenfalls im Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus eine Abschlagszahlung zu leisten, wie es in solchen Fällen auch die Österreichische Nationalbibliothek handhabe.

„Hinter jedem Buch steht ein Einzelschicksal“

Viele der fraglichen Buchexemplare stammen jedoch aus dem Privatbesitz von Einzelpersonen. In den wenigsten Fällen könne man sie aber den ursprünglichen Besitzern zurückgeben. „Es macht sehr betroffen, sich damit zu beschäftigen“, so Maria Seissl, „denn viele der Personen sind noch während der Zeit des Nationalsozialismus umgekommen.“ Es gehe zumeist nicht um einen hohen finanziellen Wert der Bücher, sondern um die persönlichen Einzelschicksale, die damit verknüpft sind. „Das meiste war damals Gebrauchsliteratur, hat jedoch einen persönlichen Wert für die Erbinnen und Erben.“

Ein bereits restituierter Bestand betrifft drei Druckbände aus dem Besitz des Brauunternehmers und Kunstmäzens Moriz Kuffner. Kuffner, der Chemie am Vorläuferinstitut der technischen Universität Wien studiert hatte, stammte aus einer jüdischen Unternehmerfamilie. 1938 musste er hochbetagt in die Schweiz zwangsemigrieren.
In einem anderen Fall wurden Bestände aus der Bibliothek Oskar Ladner entdeckt, die über die Österreichische Nationalbibliothek an die Unibibliothek Wien gelangt sind. Sie wurden aufgefunden und konnten an die Erben im Jahr 2009 zurückgegeben werden. Hierbei handelte es sich um insgesamt dreizehn Bände.

Manchmal gehe es auch um einzelne Bücher. Doch, so Seissl, „der Aufwand für ein Buch ist genau so viel wert wie für eine ganze Bibliothek.“

Ob und wie restituiert werden kann, scheitert allerdings nicht immer nur am Aufspüren der ursprünglichen Besitzer, wie Markus Stumpf weiß. „Wir haben etwa den Fall von Stefan Meier, einem zwangsemeritierten Professor auf der Physik. Wir wissen nicht genau, ob er die Bücher am Institut belassen musste. Nach 1945 kam er zurück und hätte lange Zeit gehabt auf seine alten Bücher zurückzugreifen. Es lässt sich hier schwer feststellen, ob die Bücher geraubt wurden oder er sie der Institutsbibliothek geschenkt hat.“

„Es ist zu spät für Wiedergutmachung“

Bereits ab 1945 wurden Bände zurückgegeben. Dennoch drängt sich die Frage auf, warum man sich dem Thema erst in den letzten Jahren intensiv widmet. Maria Seissl sieht in erster Linie mangelnde finanzielle Unterstützung durch den Gesetzgeber als Ursache. Durch das Kunstrückgabegesetz habe es finanzielle Mittel für die Nationalbibliothek und Museen gegeben, um Provenienzforschung zu betreiben, die Universitäten seien jedoch ausgeklammert gewesen.

Um von Wiedergutmachung zu sprechen, sei es zu spät. „Alle Bestände, die restituiert werden oder zur Restitution anstehen, werden in unserem Onlinekatalog ausgewiesen.“ Die unrechtmäßigen Erwerbungsvorgänge sollen auf diese Weise transparent gemacht und lückenlos aufgeklärt werden. Das weiterlaufende Projekt sei demnach auch als Gedächtnisarbeit zu sehen.

Tobias Körtner, science.ORF.at

Mehr zu diesem Thema: