Zwei Beispiele dafür: Kinder aus ärmeren Verhältnissen neigen als Erwachsene eher zu Übergewicht und ein längerer Spitalsaufenthalt in der Kindheit ist ein Indikator für spätere Verhaltensauffälligkeiten.
Die "Geburt" einer Langzeitstudie
Begonnen hat alles Anfang März 1946, einige Monate nach Ende des Zweiten Weltkriegs. Im Lauf einer Woche wurden damals in Großbritannien insgesamt 16.695 Babys geboren. Armut, Arbeitslosigkeit, gesundheitliche Probleme und sinkende Geburtenraten veranlassten die Regierung, eine neue Form der Untersuchung durchzuführen. Der Arzt James Douglas wurde damit beauftragt.
Im Lauf der folgenden Monate hat er 13.687 der Mütter der fast gleich alten Neugeborenen zu ihrer Gesundheit und ihren Lebensumständen befragt. Die erste, 1948 publizierte Studie zeigte, wie drastisch sich soziale Unterschiede auswirken können, z.B. auf die Überlebensrate: Von den tausend ärmsten Kindern starben 30 noch innerhalb eines Monats, bei den reichen lediglich 19.

Nature
"Nature" widmet der Rekordstudie seine aktuelle "Coverstory".
Die besorgniserregenden Ergebnisse waren ein Grund, warum man sich entschloss, das Projekt fortzusetzen. Das Leben von 5.362 der Kinder wurde unter dem Namen "The National Survey of Health and Development" - gefördert vom "Medical Research Councel" (MRC) - weiter verfolgt. Die Teilnehmer wurden in der Folge durchschnittlich alle zwei Jahre komplett untersucht, von der Kindheit bis heute, insgesamt etwa 22 Mal. Die Ergebnisse füllen bis heute acht Bücher und rund 600 Artikel.
Soziale Lebenseinflüsse
Zu Beginn war die Studie vor allem ein Instrument, um soziale Ungleichheiten und ihre Auswirkungen zu dokumentieren sowie die Wirksamkeit sozialer Reformen zu überprüfen, beispielsweise den "Education Act" von 1944. Dieser führte eine überregionale Prüfung aller Elfjährigen ein, mit der Absicht, die Klügsten - unabhängig von ihrem Hintergrund - in die Mittelschule aufzunehmen.
Die ersten Ergebnisse waren ernüchternd: Begabte Schüler der Mittelklasse schafften die Prüfung weitaus häufiger als Arbeiterkinder mit denselben kognitiven Voraussetzungen, nur die Unterstützung der Eltern und gute Lehrer erhöhten die Chancen tendenziell.
In den 1970er Jahren - die Teilnehmer waren damals in ihren Dreißigern - ließ Douglas' Interesse nach. Er hatte sämtliche Aspekte der Ausbildung, der Berufswahl und der sozialen Entwicklung untersucht.
Langzeitfolgen der Kindheit
1979 übernahm Michael Wadsworth die Leitung. Er legte einen neuen Fokus auf die körperlichen Fähigkeiten und die Gesundheit der Teilnehmer und erhielt so auch neue Fördermittel vom MRC. Besonders interessiert war er daran, wie sich die frühe Lebensphase auf medizinische Faktoren, wie Bluthochdruck, Herz- und Lungenfunktion, aber auch auf Essverhalten und Sportlichkeit auswirkt. Die neue Datenanalyse produzierte eine ganze Lawine an Korrelationen.
1985 berichtete das Team etwa darüber, dass Personen mit niedrigem Geburtsgewicht als Erwachsene häufiger unter Bluthochdruck leiden - das war einer der ersten Hinweise darauf, dass pränatales und frühkindliches Wachstum die körperliche Verfassung im Erwachsenenalter prägen. Dieser Zusammenhang zeigte sich in der Folge bei kognitiven Fähigkeiten, Diabetes, Übergewicht, Krebs und Schizophrenie.
Bis heute tauchen immer wieder neue derartige Zusammenhänge in den Daten auf, wie die jetzige Forschungsleiterin Diana Kuh gegenüber "Nature" erklärt: "Große Babys bekommen häufiger Brustkrebs. Jene, die nach der Geburt schnell wachsen, haben ein höheres kardiovaskuläres Risiko, etc."
Suche nach Erklärungen
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Heute suchen die Mitarbeiter vor allem auch nach Erklärungen für diese Korrelationen: welche Faktoren langfristig tatsächlich negative Folgen haben. Ein Ansatz dabei ist die Epigenetik: Forscher versuchen so herauszufinden, welche chemischen Spuren frühe Lebensereignisse auf der DNA hinterlassen. Die Langzeitkohorte macht es möglich, die genetischen Daten mit einer umfassenden Aufzeichnung der einzelnen Biographien zu vergleichen.
Kuh warnt aber auch davor, die Ergebnisse rein deterministisch zu interpretieren. Denn umgekehrt versuche man durch die Langzeitstudie auch herauszufinden, welche Lebensumstände manche Grundvoraussetzungen ausgleichen oder verbessern könnten. So zeigte etwa ein weiteres Detailergebnis, dass regelmäßige Bewegung in den Dreißigern und Vierzigern den geistigen Abbau im Alter bremsen kann.
Ein anderes interessantes Ergebnis: Frauen, die in ihrer Kindheit bei Intelligenztests besonders gut abschnitten, kamen deutlich später in die Menopause. Erklärungen dafür sind bis jetzt nur hypothetisch, genetische Ursachen dafür habe man laut Kuh jedenfalls noch nicht gefunden.
Seit Kuh 2007 die Leitung übernommen hat, werden die Untersuchungen der Teilnehmer in Kliniken durchgeführt. Seitdem können noch aufwändigere Methoden, wie etwa ein Knochenscan, durchgeführt werden. Mit genetischen Screenings ist die Leiterin allerdings vorsichtig. So will sie von interessierten Forschern klare Hypothesen, die derartige Untersuchungen rechtfertigen.
Spätes Treffen

MRC Unit for Lifelong Health and Ageing
Eine der Glückwunschkarten
Die Teilnehmer selbst haben eine starke Bindung zu dem Langzeitprojekt und sind in der Regel stolz, Teil der ausgewählten Gruppen zu sein. Darum haben sich die jeweiligen Studienleiter immer auch aktiv bemüht, etwa indem sie jedes Jahr zum Geburtstag Glückwunschkarten verschickten. Das führte dazu, dass nach so vielen Jahren immer noch rekordverdächtige 80 Prozent der ursprünglichen Teilnehmer dabei sind, 13 Prozent sind bereits verstorben. Der wichtigste Faktor beim Überleben ist laut Kuh übrigens die soziale Abstammung väterlicherseits.
"Im Lauf der Jahre bekam ich das Gefühl, ich kenne alle Teammitglieder, obwohl ich nie einen traf", erklärt die Teilnehmerin Patricia Malvern in "Nature". Das soll sich nun ändern. Zum ersten Mal in der 65-jährigen Geschichte plant Projektleiterin Kuh Geburtstagsfeiern, bei welchen sich die Langzeitprobanden endlich auch persönlich kennenlernen können.
Eva Obermüller, science.ORF.at
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