Die Japaner seien aber auf keinen Fall fatalistischer als anderswo oder weniger emotionell, betont Roland Domenig vom Institut für Ostasienwissenschaften der Universität Wien in einem science.ORF.at-Interview.
Die Medien in den deutschsprachigen Ländern arbeiten aber mit eben diesen Klischees, so seine Kritik.
science.ORF.at: Wie geht es Ihnen als Japanologen, wenn Ihr Untersuchungsgegenstand so stark in den Medien vorkommt wie nie zuvor in Ihrem Forscherleben?
Roland Domenig: Ich bin natürlich beunruhigt über die Entwicklungen nach dem bisher größten Erdbeben in Japan, dem darauf folgenden Tsunami und der Situation des AKW in Fukushima. Es gibt dazu nach wie vor widersprüchliche Meldungen. Ich stehe recht gut in Kontakt mit meinen japanischen Freunden und Bekannten, ihre Nachrichten sind eher beruhigend. Beunruhigend ist eher die Berichterstattung hier in Österreich.
Welchen Eindruck haben Sie von ihr?

Universität Wien
Roland Domenig ist Mitarbeiter am Institut für Ostasienwissenschaften an der Universität Wien.
Vieles an Information, was hier berichtet wird, entspricht auch dem Informationsstand in Japan. Es gibt aufgrund der dürftigen Informationslage zu Fukushima das verständliche Bedürfnis der hiesigen Medien, sich an Experten zu wenden. Diese verfügen aber auch nur über Teilinformationen, und so wird viel spekuliert. Mitunter habe ich den Eindruck, dass bereits von Tatsachen berichtet wird, wenn es sich noch um mögliche Entwicklungen handelt. Die Berichterstattung in Japan verläuft wesentlich unaufgeregter und weitgehend sachlich.
Woher kommt das?
Das hängt mit der Struktur der japanischen Medien zusammen. Die Leitmedien sind zum einen das halbstaatliche Fernsehen NHK, das auch sonst sehr nüchtern und seriös berichtet. Informationen werden mit genauer Nennung der Quellen weitergegeben, es werden keine Schreckenskommentare gleich hinterher geschoben. Der zweite wichtige Informationsträger sind die großen überregionalen Tageszeitungen, die in einer Millionenauflage erscheinen. Im Gegensatz zu Österreich liefern diese größten Zeitungen Japans ebenfalls seriöse, sachliche Informationen. So liest man etwa von "3.817 Opfern", am nächsten Tag wird die Opferzahl nach oben korrigiert: Weitergegeben werden nur gesicherte Informationen.
Wenn Sie das mit den österreichischen Medien vergleichen?
Die österreichischen Medien scheinen mir sehr aufgeregt zu sein. Es besteht ein Unterschied zwischen den deutsch- und englischsprachigen Medien, die weit weniger aufgeregt berichten. Das liegt wohl zum einen daran, dass es in den deutschsprachigen Ländern eine starke Anti-Atom-Bewegung und eine entsprechende Tendenz in der Bevölkerung gibt. Auch ist die Erinnerung an Tschernobyl vor 25 Jahren noch viel stärker präsent. In Japan ist das anders, dort stellte Tschernobyl keine unmittelbare Gefahr dar, genauso wenig wie Fukushima heute für Österreich. Es gibt deshalb heute in Japan auch kein Bewusstsein eines etwaigen "zweiten Tschernobyls". Die hiesige Berichterstattung konzentriert sich stark auf die Atomkraftwerke: Nach wie vor ist sehr unsicher, was dort passiert. Die meisten Voraussagen der letzten Tage in den österreichischen Medien haben sich nicht bewahrheitet. Es gibt keine radioaktive Wolke über Tokio, keine Todeszone etc. In Japan wird sehr viel mehr über die Betroffenenen des Erdbebens und des Tsunamis berichtet.
Mitunter hat man auch den Eindruck, dass "den Japanern" vorgeworfen wird, warum sie nicht endlich anlassgemäß in Panik verfallen.
Sendungshinweise:
Die Informationssendungen des ORF berichten laufend über die Ereignisse nach dem Beben in Japan.
Ja, die Frage taucht immer wieder auf, als Antwort wird auf ihr stoisches Wesen verwiesen. Ich glaube nicht, dass die Japaner stoisch sind. Sie reagieren sehr besonnen, sind selbstbeherrscht und agieren den Umständen entsprechend verantwortungsbewusst. Japan ist als Insel Naturkatastrophen besonders stark ausgesetzt: Vulkanausbrüche, Erdbeben, Taifune etc. treten regelmäßig auf. Schon im Kindergarten trainieren die Japaner, wie man sich in solchen Situationen verhält, wie man nicht in Panik gerät. Schon als Kinder lernen sie, dass man nicht egoistisch reagieren, sondern das Gemeinwohl im Auge behalten soll. Und das funktioniert in den meisten Krisen auch.
Haben Sie das auch selbst erlebt?
Ja, ich habe vier bis fünf Jahre in Japan gelebt, bin erst vorige Woche zurückgekommen, zu meinem Glück noch vor dem Erdbeben. Ich habe selbst Beben in Japan miterlebt, zu einem gewissen Teil gewöhnt man sich daran. Am Anfang war ich stärker verunsichert als meine japanischen Bekannten, weil ich eben nicht trainiert war, wie man sich verhalten soll. Man lernt es aber mit der Zeit und verinnerlicht gewisse Verhaltensregeln. Es ist beruhigend, wenn die Leute rundherum nicht in Panik verfallen.
Werden in der Berichterstattung von "disziplinierten Japanern" auch Klischees bedient oder entsprechen die der Wahrheit?
Der Umgang mit Naturkatastrophen, der über Jahrhundete eingelernt wurde, hat natürlich Auswirkungen auf die Mentalität der Japaner. Aber sie sind nicht fatalistischer als andere. Ihre Besonnenheit ist nicht Zeichen eines Phlegmas oder von Fatalismus, sondern das Ergebnis eines harten Trainings im Umgang mit Situationen. Es wird auch oft gesagt, dass Japaner keine Emotionalität erkennen lassen. Ich denke, das liegt daran, dass man Gefühle in Japan anders zum Ausdruck bringt als hier. Im japanischen Fernsehen gab es sehr wohl stark emotionale Bilder zu sehen. Wenn Redakteure hierzulande die Wahl haben zwischen derartigen emotionalen Bildern und Bildern von disziplinierten Japanern, die irgendwo Schlange stehen, werden sie wohl lieber letztere verwenden - und damit Klischees weitertragen.
Interview: Lukas Wieselberg, science.ORF.at
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