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Ein alter Mann blickt müde zur Seite.

Was ein Super-GAU der Psyche antut

Erdbeben, Tsunami und die Angst vor austretender Radioaktivität werden an der "Seele" der japanischen Gesellschaft ihre Spuren hinterlassen. Die Menschen werden auch Jahre danach noch mit Belastungsstörungen wie Angst und Depression zu kämpfen haben, erklärt die Psychologin Brigitte Lueger-Schuster im science.ORF.at-Interview.

Psychologie 08.04.2011

Aus Unfällen wie etwa Tschernobyl habe man gelernt, wie lange die Bevölkerung braucht, um neben den medizinischen auch die psychologischen Herausforderungen zu bewältigen, beschreibt Lueger-Schuster. Die Erfahrungen hält sie trotz der kulturellen Unterschiede für durchaus übertragbar.

science.ORF.at: Japan wurde in den letzten Wochen von mehreren Katastrophen erschüttert. Welche Auswirkungen auf die Psyche der japanischen Gesellschaft sind zu erwarten?

Brigitte Lueger-Schuster

Privat

Brigitte Lueger-Schuster ist klinische Psychologin und Traumaspezialistin. Über die "Massenpsychologischen Auswirkungen eines GAUs" spricht sie auch im Rahmen der Veranstaltung "25 Jahre Tschernobyl. Gedenken - Nachdenken - Vordenken" am 11. April 2011.

Brigitte Lueger-Schuster: Die Vorkommnisse hatten drei Dimensionen - das macht auch die Prognose von Auswirkungen schwierig, weil jedes Ereignis eine eigene Dynamik aufweist: Zum einen gab es das heftige Erdbeben. Aus internationalen Studien weiß man, dass je nach Nähe zum Epizentrum unterschiedlich heftige psychische Irritationen auftreten. Nun ist die japanische Gesellschaft aber den Umgang mit Erdbeben gewohnt, weshalb hier mit eher milden Reaktionen zu rechnen ist. Auch die zerstörerische Wirkung eines Tsunami ist im Prinzip bekannt. Die Kombination von beidem - Erdbeben und Flutwelle - führt sicherlich zu Belastungsstörungen, wie man sie von anderen Naturkatastrophen kennt: Depressionen, Verzweiflung, Selbstmedikation, aber auch Alkoholmissbrauch. Darüber legt sich aber nun noch die atomare Bedrohung. Was die Kombination aus allen drei Dimensionen bewirkt, lässt sich kaum prognostizieren.

Warum?

Die Bedrohung durch Radioaktivität spürt man nicht, riecht man nicht, sieht man nicht. Gerade in Japan, wo man durch die Atombombenabwürfe von Nagasaki und Hiroshima viel über atomare Zerstörung weiß, kann diese Bedrohung in Kombination mit Erdbeben und Tsunami eine nachhaltige Wirkung auf die Bevölkerung entfalten. Man weiß von Untersuchungen nach den Atombombenabwürfen, dass Opfer neben den massiven medizinischen Auswirkungen auch nach Jahrzehnten noch immer unter starken psychischen Irritationen litten. Auch in Tschernobyl hatten die Menschen nach fünf Jahren überdurchschnittlich oft mit Schlafstörungen und psychosomatischen Erkrankungen zu kämpfen, der Alkoholmissbrauch nahm stark zu.

Posttraumatische Belastungsstörungen (PTBS):

Unter Posttraumatischen Belastungsstörungen werden verschiedene psychische und psychosomatische Symptome zusammengefasst, die nach einer oder mehreren traumatischen Erfahrungen zu Tage treten: Albträume, Angstzustände, Schreckhaftigkeit gehören - um nur einige wenige Beispiele zu nennen - ebenso dazu wie Depressionen, Suchtverhalten oder sogar Selbstmordgedanken. PTBS können durch eine Therapie bearbeitet bzw. abgebaut werden.

Was ist das Besondere an der atomaren Bedrohung?

Durch Erdbeben und Tsunami kam es sofort zu massiven Zerstörungen, die Folgen waren unmittelbar sichtbar. Radioaktivität wirkt "unsichtbar", dafür aber umso langfristiger. Gebiete werden über Jahrhunderte unbewohnbar. Falls tatsächlich soviel Strahlung austritt, wie man immer wieder liest, werden auch die medizinischen Auswirkungen massiv sein. Welche Lebensmittel kann man Kindern noch bedenkenlos zu essen geben? Fragen wie diese erhöhen die Unsicherheit in Zeiten von ohnehin schon hohem Stress.

Man hat in den letzten Wochen viel über die Besonderheiten der japanischen Gesellschaft in Punkto Disziplin und Belastbarkeit gelesen. Kann man von Reaktionen rund um Tschernobyl tatsächlich auf Auswirkungen in Japan schließen?

In jeder Bevölkerung sind fünf bis zehn Prozent der Menschen psychisch verletzlich, sie sind in solchen Extremsituationen natürlich besonders gefährdet. Offenbar wird in Japan besonders viel Wert darauf gelegt, in der Öffentlichkeit das Gesicht zu wahren. Aber dass man seinen Schmerz nicht öffentlich mitteilt, bedeutet nicht, dass er nicht vorhanden ist. Dann wird er eben im sozialen Nahraum ausgedrückt. Man weiß aus der Forschung zu posttraumatischen Belastungsstörungen, dass es im Grunde kaum kulturelle Unterschiede gibt. Der Körper bestimmt zum Großteil die Auswirkungen traumatischer Erfahrungen, da läuft einfach eine biologische Programmierung ab. Deshalb kann man von der Erfahrung, die man rund um Tschernobyl gesammelt hat, vieles auf Japan übertragen.

Sendungshinweise:

Die Informationssendungen des ORF berichten laufend über die Ereignisse nach dem Beben in Japan.

Trauma gilt als etwas Individuelles, der Einzelne kann sich nach einer traumatischen Erfahrung auch einer Therapie unterziehen. Wie kann eine gesamte Gesellschaft therapiert werden?

Das European Network on Traumatic Stress hat Richtlinien erarbeitet, wie im Fall einer Katastrophe mit 250.000 bis 300.000 Betroffenen vorgegangen werden soll: In der jetzigen Phase ist es wichtig, jenen Menschen, die ihr Haus verloren haben und in Sammellagern leben, ein Gefühl der Sicherheit zu geben. Man muss sie zur Ruhe kommen lassen, ihnen etwa durch die Wiedereinbindung in soziale Gefüge wie die eigene Familie Stabilität verschaffen und ihnen einen Teil ihrer Handlungsfähigkeit zurückgeben. Man nennt diese Phase "watchful waiting". Danach sollten besonders gestresste Personen mit einer Therapie beginnen, in der sie etwa durch Entspannungstraining zuerst einmal stabilisiert werden. Dann beginnt die Auseinandersetzung mit den quälenden Erinnerungen, um letztlich um das Verlorene trauern, sich aber auch von ihm verabschieden zu können. Ziel ist es, dass aus Schmerz letztlich Bitterkeit wird und vielleicht ein Neuanfang möglich ist. Um die Betreuung vor Ort sicherzustellen, wird es wohl beides geben müssen: psychosoziale Zentren, an die sich die Menschen wenden können, aber auch Psychologinnen und Psychologen, die auf die Opfer direkt zugehen.

Interview: Elke Ziegler, science.ORF.at

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