Ordnung gegen Fehlverhalten
Stadtpolitiker haben längst erkannt, dass sie in äußere Ordnung investieren müssen: Die Straßen sollten am besten täglich gereinigt werden, der Müll regelmäßig entsorgt und öffentliche Gebäude ohne sichtbare Schäden und am besten immer frisch gestrichen sein.
Dies geschieht allerdings nicht nur deswegen, weil es schöner aussieht. Sozialwissenschaftliche Studien zeigen nämlich, dass äußere Verwahrlosung gewissermaßen ansteckend ist und sich direkt auf das Verhalten des einzelnen auswirkt. Ist die Umwelt unordentlich, neigen Menschen eher dazu, selbst Abfälle wegzuschmeißen oder gar zu stehlen. Ordentliche Städte können demnach kriminelles Verhalten vorbeugen.
Sehnsucht nach Ordnung
Zur Studie in "Science":
"Coping with Chaos: How Disordered Contexts Promote Stereotyping and Discrimination" von Diederik A. Stapel und Siegwart Lindenberg
Ein unerfülltes Bedürfnis nach Ordnung könnte laut den Forschern Diederik A. Stapel von der niederländischen Tilburg Universität und Siegwart Lindenberg von der Universität Groningen aber noch ganz andere Folgewirkungen haben. Es könnte Menschen dazu verleiten, quasi als Ausgleich Dinge gedanklich zu vereinfachen und zu kategorisieren - so entstünden Stereotypen, im Extremfall Diskriminierung. Empirisch überprüft haben sie das nun im echten Leben und im Labor.
Für ersteres kam den Wissenschaftler ein Streik des Reinigungspersonals im Utrechter Bahnhof gerade recht. Tausende Reise bewegen sich täglich durch die Station. Durch den Ausfall des Reinigungspersonals verwandelte sich diese innerhalb weniger Tage in einen verwahrlosten und schmutzigen Ort. Genau dort führten die Forscher ihr erstes Experiment durch.
Chaos führt zu Stereotypen

D.A. Stapel, Science
Sie baten 40 Reisende, die Hälfte davon weiblich, im Austausch für ein Zuckerl oder einen Apfel einen Fragebogen auszufüllen. Darin sollten sie bestimmte Eigenschaften mit drei gesellschaftlichen Gruppen assoziieren: Muslime, Homosexuelle und Niederländer. Gleichzeitig wurde auch ihr Verhalten getestet. Sie mussten sich zum Ausfüllen des Formulars nämlich auf einen von sechs Stühlen setzen: welcher, war frei wählbar, nur der erste war bereits besetzt. Bei der Hälfte der Testpersonen von einem farbigen Niederländer, bei der anderen von einem weißen.

D.A. Stapel, Science
Ein Woche später - der Bahnhof war inzwischen wieder gereinigt worden - wiederholten sie das Experiment. Der Vergleich der Ergebnisse zeigte, dass die ersten Probanden - offensichtlich angesichts der äußeren Unordnung - bei der Einschätzung der sozialen Gruppen viel eher zu Stereotypen neigten. Die Auswertung des Verhaltens verdeutlichte diese Diskrepanz: Im äußeren Chaos setzen sich die Probanden lieber etwas weiter weg von ihrem farbigen Mitbürger. Im aufgeräumten Umfeld spielte dessen ethnische Zugehörigkeit bei der Platzwahl keine Rolle.
Ordnungsbedürfnis und Stereotypen

D.A. Stapel, Science
Ob es generell eher um Sauberkeit oder um Ordnung geht, versuchten die Forscher in einem weiteren Feldexperiment zu erheben. Dafür brachten sie auf subtile Weise etwas Unordnung in ein sauberes Umfeld. Sie entfernten einige Pflastersteine aus dem Gehweg, parkten ein Auto mit offenen Fenstern schief und legten ein Fahrrad auf die Straße. Wieder mussten 47 zufällig ausgewählte Passanten denselben Fragebogen wie in der ersten Erhebung ausfüllen. Am Ende erhielten sie jeweils fünf Euro und wurden gefragt, ob sie dieses Geld nicht dem "Money for Minorities Fund" spenden wollten, ein Spendenfond für Minderheiten. Das war in diesem Fall der eingebaute Verhaltenstest. Das Kontrollexperiment wurde danach unter den gleichen Bedingungen durchgeführt, nur die kleinen Störfaktoren in der Umwelt waren wieder behoben worden.
Der Vergleich zeigte ein ähnliches Ergebnis wie das Bahnhofsexperiment: Die kleine Störung der Ordnung verleitete die Probanden eher zu stereotypischen Denken und sie waren auch seltener bereit, das eingenommene Geld zu spenden.

D.a. Stapel, Science
Schließlich führten die Wissenschaftler noch einige Laborexperimente zur Überprüfung durch. Mit Hilfe von Bildern, Symbolen und Wörtern versuchten sie Gefühle der Ordnung oder der Unordnung hervorzurufen. Außerdem befragten sie die Teilnehmer allgemein zu ihrem Bedürfnis nach Struktur und Ordnung im Leben. Am Ende mussten sie ebenfalls den Stereotypenfragebogen beantworten. Auch diese Versuchsreihen kamen zum selben Ergebnis: Unordnung begünstigt Stereotypen. Zudem zeigte sich, dass es einen starken Zusammenhang zwischen dem allgemeinen Ordnungsbedürfnis und einer stereotypischen Sichtweise gibt.
Ordnung gegen Diskriminierung
Den Forschern zufolge sind Menschen sehr empfindlich, wenn ihre Ordnung gestört ist. Sie hätten ein starkes Bedürfnis nach Struktur und bei einer Störung versuchten sie, diese unbewusst zu kompensieren. Die Ergebnisse zeigen, dass Stereotypenbildung ein derartiger Versuch ist. Sie sei ein "mentales Reinigungsinstrument, um mit äußerem Chaos zurechtzukommen".
Waren öffentliche Ordnung und Sauberkeit bis jetzt vor allem Symbole für Sicherheit und dienten der Abschreckung von Kriminellen, könnten ihnen angesichts dieser Ergebnisse in Zukunft ein völlig andere politische Rolle zufallen: Sie könnten der Entstehung vereinfachender Stereotypen und so der Diskriminierung von Minderheiten vorbeugen.
Eva Obermüller, science.ORF.at