Warnung vor Ethanol im Bier
Johann Wiesinger, der Präsident des Verbands der Chemielehrer Österreichs ortet breites Unwissen über Chemie in der Bevölkerung. Und dieses sei in der Vergangenheit auch schon Ziel von Scherzen geworden. So habe eine deutsche Tageszeitung vor Jahren in einem Aprilscherz vor gefährlichem Ethanol in Bier und Wein gewarnt - also vor Alkohol.
Und Studenten hätten schon mal erfolgreich Unterschriften gegen Dihydrogenmonoxid gesammelt. Die Substanz habe bereits Todesfälle verursacht. Doch hinter der kompliziert klingenden Verbindung steckt nichts anderes als Wasser. Und auch vor "Chlor im Kochsalz" ist Wiesinger zufolge schon gewarnt worden. Für Chemiker überraschend, besteht Kochsalz doch aus Chlor und Natrium.
Grundlagen versus Schmankerl
Ö1-Sendungshinweis:
Die Unesco hat 2011 zum Internationalen Jahr der Chemie ausgerufen. Auf science.ORF.at werden laufend Artikel zum Thema erscheinen. Auch Radio Österreich 1 widmet dem Jahr der Chemie einen Schwerpunkt.
Weitere Informationen zum Jahr der Chemie findet man auf der internationalen Seite der Unesco und dem österreichischen Pendant.
Dass das chemische Wissen in der Bevölkerung gering ist, scheint kein Wunder zu sein, ist das Fach doch in der Schule ein eher ungeliebtes. "Das Fach polarisiert", sagt Herbert Ipser, Professor am Institut für Anorganische Chemie der Universität Wien und Präsident der Gesellschaft Österreichischer Chemiker. Im Durchschnitt sei Chemie bei Schülern eher unbeliebt, aber keineswegs bei allen. Die meisten Schüler seien zwar desinteressiert, einige aber mit großem Interesse dabei.
Der Chemieunterricht hat sich in den letzten Jahrzehnten laut Ipser stark verändert. Das Wissen sei immer breiter geworden, aus Zeitmangel könne aber nicht alles unterrichtet werden. Im Wesentlichen müssten die Lehrer zwischen Grundlagen und Schmankerln wählen. Zu ersteren gehöre zum Beispiel Wissen um Regeln: Was sind Säuren und Basen, wie reagieren sie miteinander, wie passen die Eigenschaften von Elementen und das Periodensystem zusammen. Die Schmankerln: Was können moderne Biochemie und neue Materialien?
Die Schmankerln ließen sich Ipser zufolge auch ohne die Grundlagen erklären, blieben dann aber bloß lexikalisches Wissen. Ohne die oft als langweilig empfundenen Grundlagen ließe sich das Verständnis nicht vertiefen. Gerade die Grundlagen fielen aber im Unterricht oft unter den Tisch.
Beliebte Experimente
Konferenzen, Zeitschriften, Wettbewerbe
Der Verband der Chemielehrer Österreichs bemüht sich durch eine Reihe von Initiativen, das Fach den Schülern und Schülerinnen schmackhaft zu machen: Der Verband gibt zum Beispiel das Magazin "Molecool" heraus und organisiert einen Projektwettbewerb für Schülerinnen und Schüler, heuer zum Thema "Mit Chemie zu Energie".
Von 27. bis 30. April 2011 treffen sich die Chemielehrerinnen und -lehrer Österreich in Klagenfurt zum Europäischen Chemielehrerkongress, der heuer ebenfalls unter dem Motto Energie steht.
Chemieunterricht sei durchaus beliebt, wenn er experimentell ist, sagt Wiesinger. Doch für die Experimente im Unterricht fehle meist die Zeit, da es zu wenige Unterrichtsstunden für Chemie gebe. Oft würde es zudem an der notwendigen Einrichtung mangeln. Diese Auffassung teilt auch Nadia Mösch-Zanetti, die Leiterin des Instituts für Chemie an der Karl-Franzens-Universität Graz: "Man kann den Schülern die meiste Freude im Unterricht machen, wenn sie selbst etwas angreifen können."
Ein Problem bei Veranstaltungen, die das Interesse von Schülern an der Chemie fördern - wie zum Beispiel jene im Lauf des Jahres der Chemie oder Tage der offenen Tür an den Universitäten -, ist laut Mösch-Zanetti, dass in erster Linie jene Schüler kommen, die sich schon für Chemie interessieren. Wichtig sei, genau die anderen zu erreichen. Das versucht man an der Uni Graz zum Beispiel durch ein sogenanntes Mitmachlabor. Bei ihm können ganze Schulklassen auch außerhalb des Jahres der Chemie experimentieren. Auch die TU Wien bietet ein solches Mitmachlabor.
Viele Studienabbrecher
Selbst wenn das Fach in der Schule eher unbeliebt ist, die Nachfrage nach dem Studium ist durchaus vorhanden. Es mangelt laut Ipser nicht an Studienbeginnern, doch die Drop-Out-Rate sei mit 50 bis 70 Prozent hoch. An der TU Wien liege die Drop-Out-Rate bei der Chemie mit 60 bis 70 Prozent circa gleich hoch wie bei anderen Fächern der Uni, sagt Brigitte Ratzer, Chemikerin und Leiterin der Koordinationsstelle für Frauenförderung und Gender Studies an der TU Wien. Viele Abbrechende würde beklagen, dass sie sich überfordert oder dumm fühlen, weil an der Uni Wissen vorausgesetzt werde, dass sie nicht haben.
Als Gründe für die Misere nennt Ipser falsche Vorstellungen über das, was einen auf der Uni erwartet, vielen Studenten werde der Stoff zu viel. Ipser wünscht sich, dass Schüler besser auf das Studium vorbereitet werden. Doch die Chemie werde in der Schule wie ein Stiefkind behandelt.
Wiesinger spielt den Ball an die Universitäten zurück: Sie müssten die Schüler dort abholen, wo diese stehen. Während die gymnasiale Ausbildung früher eine für die Hochschule war, würde diese Voraussetzung heute nicht mehr erfüllt. Und mehr als die Hälfte der Maturanten käme aus berufsbildenden höheren Schulen, in denen es zum Teil noch weniger Chemiestunden gebe als am Gymnasium. Laut Mösch-Zanetti sind Schüler unterschiedlich gut auf das Studium vorbereitet. Im Wesentlichen hänge es von der Schule ab, welche Voraussetzungen die jungen Studenten mitbringen. Eine mögliche Lösung für das Problem wären Ratzer zufolge auch sogenannte Brückenkurse zu Studienbeginn, die alle Studierenden auf das gleiche Niveau bringen.
Hoher Frauenanteil
Auch an Studentinnen mangelt es der Chemie nicht. Der Frauenanteil liegt Ratzer zufolge bei der Technischen Chemie an der TU Wien mit 35 bis 40 Prozent relativ hoch - der zweithöchste Frauenanteil an der Hochschule nach dem Architekturstudium. Laut Mösch-Zanetti liegt der Frauenanteil bei den Neuanfängern beim Chemiestudium auch an der Uni Graz mit 50 Prozent durchaus hoch.
Schlechter Ruf
Ipser bemängelt, dass geisteswissenschaftliche Fächer oder zum Beispiel Medizin hierzulange einen besseren Ruf hätten als Chemie und andere naturwissenschaftliche Fächer. Dies sei in Ländern wie zum Beispiel China und Indien anders. Ipser befürchtet daher, dass sich die naturwissenschaftlich-technische Entwicklung in Zukunft eher in diesen Länder abspielen könnte. "Wenn ein Politiker sagt, dass er sich für Mozart nicht interessiert, ist er unten durch; wenn er sagt, dass er Chemie nicht verstanden hat, weckt er Sympathien", sagt Ipser. Dieser Mangel an Wissen beträfe aber auch andere naturwissenschaftlich-technische Fächer.
Dabei könnten Menschen laut Ipser angstfreier mit der Chemie umgehen, wenn sie mehr darüber wüssten. Breites chemisches und naturwissenschaftliches Wissen helfe auch, sich in Sachfragen nicht in die Irre führen zu lassen und Herstellern esoterischer, pseudowissenschaftlicher Produkte nicht auf den Leim zu gehen.
Mark Hammer, science.ORF.at
Mehr zu diesem Thema: