Das "Committee on Medical Aspects of Radiation in the Environment" (COMARE), ein Beratungsgremium der britischen Regierung, konnte keinen Zusammenhang zwischen einer Kindheit in unmittelbarer Nähe eines Kernkraftwerks und einer Erkrankung an Leukämie feststellen - dennoch raten die Experten aber zu weiterer Beobachtung.
Der Report:
Der "Fourteenth Report: Further consideration of the incidence of childhood leukaemia around nuclear power plants in Great Britain" wurde kürzlich präsentiert und steht als .pdf zum Download bereit.
Atomkraftwerk und Leukämie
Im Jahr 2008 wirbelte eine Studie aus Deutschland viel Staub auf: Mediziner untersuchten im Auftrag des Bundesamtes für Strahlenschutz, ob es speziell für Kinder unter fünf Jahren ein Risiko darstellt, in der Nähe eines Kernkraftwerks aufzuwachsen. Das Team aus sechs Forschern kam damals zu einer eindeutigen Antwort: "Die Studie hat insgesamt bestätigt, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen der Nähe der Wohnung zum Kernkraftwerk zum Zeitpunkt der Diagnose und dem Risiko, vor dem 5. Geburtstag an Krebs bzw. Leukämie zu erkranken," hieß es damals.
Nicht nur der grundsätzliche Zusammenhang wurde durch die Analyse des Schicksals von 1.592 krebskranken Kindern und 4.735 Kontrollfällen belegt, auch über die Korrelation zwischen Entfernung des Wohnortes vom Kraftwerk und dem Erkrankungsrisiko äußerten sich die Studienautoren eindeutig: "Es ergibt sich ein negativer Abstandstrend, das heißt, das Risiko einer bösartigen Neuerkrankung nimmt mit zunehmender Nähe zum Reaktorstandort zu."
Ratlos zeigten sich die deutschen Mediziner hinsichtlich des Grundes für die erhöhten Krebsraten: "Nach derzeitigem Kenntnisstand ist die zusätzliche Strahlenexposition der Bevölkerung durch den Betrieb der Leistungsreaktoren zu gering, um den Effekt erklären zu können. Sie müsste etwa 1.000 bis 10.000 mal höher sein. Es gibt derzeit keine plausible Erklärung für den festgestellten Effekt", schreiben sie in ihrer Studie.
Leukämie-Cluster
Schon bei der Präsentation der "Epidemiologischen Studie zu Kinderkrebs in der Umgebung von Kernkraftwerken" wurden Stimmen laut, die in Zusammenhang mit den häufigeren Erkrankungen von Zufallsergebnissen sprachen - auch in anderen Regionen könne man Leukämie-"Cluster" finden - ganz ohne Atomkraftwerk. Es müsse demnach andere Faktoren geben, die das Auftreten von Leukämie beeinflussen, und die hätten die Autoren der deutschen Studien gänzlich vernachlässigt.
In genau dieses Horn blasen nun auch die britischen Mediziner mit ihrem Bericht. 500 Kinder erkranken in Großbritannien jedes Jahr an Leukämie, während des gesamten Studienzeitraums waren das 20 Kinder mit Leukämie, die jünger als fünf Jahre waren und in der Nähe eines Kernkraftwerks lebten. Schon allein die geringe Zahl mache statistisch signifikante Aussagen schwierig, erklärt der Hauptautor des COMARE-Berichts, der klinische Physiker Alex Elliott von der Universität Glasgow gegenüber der britischen BBC.
Keine Einwände gegen Ausbau
Um die Aussagekraft der Anzahl von Krebsfällen in Frage zu stellen, untersuchten die britischen Mediziner auch, ob es rund um Standorte von erst geplanten bzw. diskutierten Standorten von Kernkraftwerken mehr Leukämie-Fälle gibt - und sie wurden an einem Ort fündig. Ein Beleg mehr für die Autoren des nun vorliegenden Berichts, dass es kaum möglich sei, aus dem Vorkommen einer so seltenen Krankheit wie Leukämie stichhaltige Argumente abzuleiten. Grundsätzlich konnten sie im Gegensatz zur deutschen Studie keinen Zusammenhang zwischen einem Wohnort in AKW-Nähe und dem Erkrankungsrisiko feststellen.
Dass damit die Debatte über die Gefährlichkeit von - im Normalbetrieb laufenden - Kernkraftwerken beendet sei, glaubt aber auch das Beratergremium um Alex Elliot nicht. In ihren Empfehlungen raten sie der britischen Regierung, die Diskussionen über gesundheitliche Auswirkungen von niedrig dosierter, dafür aber kontinuierlicher Strahlung zu beobachten und die Gründe für Leukämie bei Kindern weiter zu erforschen. Aus ihrer Sicht gibt es aber keine - gesundheitlichen - Einwände gegen den weiteren Ausbau der Atomkraft in Großbritannien.
Diskussion wird weitergehen
Der Umweltmediziner Hans-Peter Hutter vom Institut für Umwelthygiene der Medizinischen Universität Wien betont im Gespräch mit science.ORF.at, dass dieser Hintergrund - der Wunsch der britischen Regierung nach weiterem Ausbau der Atomkraft - bei der Interpretation der Studie berücksichtigt werden müsse.
Eines sei klar: "Ionisierende Strahlung ist krebserregend", bei der Frage nach gesundheitlichen Auswirkungen von Atomkraftwerken gebe es aber zwei Schwierigkeiten: "Erstens zu unterscheiden, ob Krankheiten von der niedrigen Strahlung der AKW oder von natürlichen Strahlungen bzw. Strahlen im Rahmen einer radiologischen Untersuchung ausgelöst werden. Und zweitens aufgrund einer glücklicherweise sehr selten vorkommenden Krankheit wie Leukämie zu robusten Ergebnissen zu kommen." Die abschließende Einschätzung des Umweltmediziners: "Die Diskussion wird weitergehen."
Elke Ziegler, science.ORF.at