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Der Stephansdom in Wien

Wien - ein Labor für moderne Gefühle

Hat die Moderne die Welt "entzaubert" und mit Hilfe der Wissenschaften zu einem Ort gemacht, an dem mehr die Vernunft als die Gefühle zählen? Die deutsche Historikerin Ute Frevert glaubt das nicht. Speziell in Großstädten bildeten sich neue, moderne Leidenschaften in Politik und Kultur - allen voran im "Experimentierraum Wien".

Geschichte 20.05.2011

Als Einzelner Teil einer Gruppe zu werden und dabei Erfahrungen zu machen, die man alleine nicht gemacht hätte, sei Grundlage für diese urbanen Gefühle, meint Frevert in einem science.ORF.at-Interview. Auch die Politik sei ohne Emotionen nicht denkbar.

Wie das Wiener Fin de Siècle zum Vorreiter dieser Entwicklung wurde, hat der US-Kulturhistoriker Carl Schorske vor über 30 Jahren in einem Buch beschrieben, das bis heute als unübertroffen gilt. Zu seinen Ehren wurde gestern die erste Schorske Lecture abgehalten, von Ute Frevert.

Ute Frevert bei erster Schorske Lecture:

Max-Planck-Institut für Bildungsforschung

Die Historikerin Ute Frevert arbeitet zu den Themenschwerpunkten Sozial- und Geschlechtergeschichte. Seit 2008 ist sie Direktorin des Forschungsbereiches "Geschichte der Gefühle" am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin.

Am 18.5. hielt Frevert die erste Carl E. Schorske Lecture "Urbane Gefühle? Die Stadt als Labor moderner Leidenschaften" am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften in Wien.

Das Buch "Wien. Geist und Gesellschaft im Fin de Siècle" von Carl Schorske ist 1980 auf Englisch erschienen und wurde im Jahr darauf mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet.

science.ORF.at: Nach Max Weber hat die Moderne die Welt "entzaubert", wodurch auch die Gefühle weniger wichtig wurden. Was halten Sie davon?

Ute Frevert: Weber selbst hat seine These ja schon differenziert. Mindestens zwei Bereiche entziehen sich seiner Ansicht nach dieser Entzauberung: die Kunst und die Erotik. Dazu könnte man noch die Religion nennen. Ich denke aber, dass die These selbst bei seinen Paradebeispielen - die Bürokratie und die Politik - nicht stimmt. Auch Politik hat etwas mit Leidenschaften zu tun und geht nicht im zweckrationalen Kalkül auf. Max Weber selbst hat das Gegenbeispiel geliefert.

Inwiefern?

Er ist im Ersten Weltkrieg als Redner bei großen Volksveranstaltungen aufgetreten und hat dabei auf der Klaviatur der Gefühle gespielt. "Uns (dem Deutschen Reich) geht es nicht darum, unsere Interessen durchzusetzen oder mehr Land und Ressourcen zu gewinnen, sondern um die Ehre", hat er z.B. sinngemäß bei einer Versammlung der Linksliberalen 1916 gesagt. Dieser Ehrbegriff ist extrem emotional besetzt, das passt nicht gerade zu seiner Entzauberungsthese. Jeder politische Auftritt braucht diese emotionale Verstärkung.

Sie haben den ersten Vortrag der neuen Schorske Lectures am IFK in Wien gehalten: Ist das ein guter Ort, um über die Geschichte der Gefühle nachzudenken?

Da ich jetzt in Berlin lebe, denke ich zurzeit v.a. über Berlin nach. Aber wenn man sich die Zeit um 1900 ansieht, ist Wien viel spannender. Wien war ein Experimentierraum der Moderne in Politik, Kunst und Gesellschaft. Die Stadt war größer, hatte mehr Geschichte, wurde architektonisch gerade umgebaut, war kulturell aufregend. Dazu hatte Wien eine starke Arbeiterbewegung, die Sozialdemokratie musste sich auch in der Nationalitätenfrage positionieren. Hier wurden auf vielen Ebenen Kämpfe ausgetragen, die in ihrer Intensität in Mitteleuropa einzigartig waren. Insofern ist Wien die beste Stadt, um eine Geschichte der Gefühle zu untersuchen.

Dem Liberalismus war in Österreich kein langes Glück beschieden. Er regierte maximal von 1860 bis 1900, wie Schorske schrieb. Als er politisch scheiterte, hätten sich die enttäuschten liberalen Bürger anderen Sphären zugewandt, wie der Kunst und Kultur. Teilen Sie Schorskes These?

Ich bin keine Expertin für österreichische Innenpolitik, aber das leuchtet mir nicht ganz ein. Üblicherweise machen Bürger ja beides, Politik und Kunst. Viele Dinge, die man in der Politik macht, kann man auch im Kunstverein oder beim Opernball machen. Die Tätigkeiten greifen ineinander.

Schorske betont auch die Wichtigkeit von Vernunft und Moral, auf die sich die Liberalen beriefen, und die im Gegensatz zur Gefühlsbetonung ihrer politischen Gegner standen, den Christlich-Sozialen, den Deutsch-Nationalen und den Sozialisten, aber auch von Kunst und Kultur ...

Auch der Liberalismus ist kein durchgängig rationales System. In erster Linie ist es die Vision einer politischen Ordnung, die mit einem ganz bestimmten Menschenbild einhergeht. Und Visionen politischer Ordnung entstehen in der Regel nicht so, dass sich Leute hinsetzen und eine Kartographie des Politischen entwerfen, die sie dann umsetzen. Auch die Herausarbeitung liberaler Konzepte erfolgte durch Kampf und Auseinandersetzung, durch den Streit unterschiedlicher Meinungen, der hochemotional und unter allen Regeln der Gefühlskunst durchexerziert wurde. Etwa bei der Frage politischer Partizipation: Der Liberalismus stand nicht zuletzt dafür, gegen die Einführung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts zu sein.

Ö1 Sendungshinweis:

Dem Thema widmet sich auch ein Beitrag in Wissen aktuell, 19.5., 13:55 Uhr.

Aus Vernunftgründen, weil sonst die vermeintlich bloß emotionalen Volksmassen an die Macht gekommen wären ...

Genau. Aber das ist eine bloße Ideologie, wonach das Volk die Gefühle nicht so gut kontrollieren kann "wie wir". "Wir sind in der Lage, etwas sine ira et studio zu betrachten." Das sind reine Selbstillusionen. Wenn man sich stenografische Berichte von Parlamentsdebatten mit den Zwischenrufen der Zeit ansieht, findet man ganz andere Gefühlslagen als rationale und rein interessensorientierte. Politik ohne Gefühle ist nicht denkbar. Vor allem nicht in Zeiten des politischen Massenmarkts, wie es Hans Rosenberg genannt hat. Aber selbst auf die Honoratiorenpolitik, für die die liberale Politik steht, trifft das nicht zu.

Abseits der Politik: Inwiefern haben Städte das Gefühlsleben der Menschen verändert?

Dazu vorerst etwas Methodisches: Als Historiker schauen wir uns zuallererst an, wie Zeitgenossen über sich und ihre Zeit gesprochen haben. Das ist eine wichtige Quelle, der wir aus heutiger Sicht nicht unbedingt Glauben schenken müssen. Denn 100 Jahre später sieht man anderes, verfügt über andere Informationsquellen, hat man einen anderen Fokus etc.

Die Wahrnehmung der Zeitgenossen hatte jedenfalls zwei Stränge. Der eine, von den frühen Großsstadtsoziologen stammende, besagt: Die Großstadt versachlicht, macht Menschen kühler, verstandesgemäßer und distanzierter. Das führt zu den bis heute üblichen Klagen, wonach der moderne Großstadtmensch emotional abgestumpft und anonymisiert sei. Georg Simmel sprach davon, dass die typische Gefühlskultur des Großstädters die Blasiertheit und Reserviertheit sind.

Der zweite Strang betrachtet das Fin de siècle als Zeitalter der Massen. Diese These von Gustav le Bon war damals sehr populär. Massen sind gar nicht blasiert oder reserviert, meinte er, sondern sie motivieren die Einzelnen zu Handlungen, die sie als Einzelne gar nicht getan hätten; sie produzieren neue emotionale Erfahrungen, zu denen Einzelne gar nicht fähig wären.

Welcher der beiden Thesen würden Sie zustimmen?

Ich neige zur Massen-These: Jeder ist permanent Teil einer Masse oder eines Kollektivs, auch wenn man sich diese selbst gar nicht aussucht. Diese Erfahrung, Teil von Vielen zu sein, bedeutet nicht unbedingt, dass es auch so etwas wie eine kollektive Identität gibt. Sehr wohl aber entstehen durch diese Kollektive Gefühle, die über das hinausgehen, was der Einzelne fühlt. Das ist irritierend und beängstigend, aber auch attraktiv. Diese Erfahrung kann nur in Großstädten gemacht werden: Teil von Gruppen zu sein, die nicht vorgeformt sind, sondern die sich permanent bilden und auflösen. Das konterkariert natürlich stark die Bemühungen des modernen Menschen zu immer mehr Individualität und führt zu Spannungen, die dann zu einem spezifischen Großstadtgefühl werden.

Wo befinden sich heute die Zentren dieser urbanen Gefühle?

Mit Sicherheit in den Arenen des Sports, den Fußballstadien und ihrer Umgebung, aber auch bei großen Kulturveranstaltungen wie der Loveparade. In Wien sind es vermutlich ritualisierte Veranstaltungen wie der Opernball oder Life Ball, bei denen man Großstadtgefühle wahrnehmen kann. Beim Sport ist auch eine Vorstellung von Exzess zentral, die in der Großstadt steckt: eine Freizeitkultur, die es mir erlaubt, kontrolliert und zeitlich begrenzt eine andere Identität anzunehmen, als die ich ansonsten habe, und dabei über die Stränge zu schlagen.

Interview: Lukas Wieselberg, science.ORF.at

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