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Ein Mann und eine Frau liegen im Bett, man sieht nur ihre Füße

"Es gibt keine sozialistische Sexualität"

Für die Soziologie ist Sexualität vor allem die Frage: wer mit wem? Seit den 1960er Jahren hat sich viel verändert, die Ehe ist nicht mehr der bevorzugte Ort des Geschlechtsverkehrs. Fixe Beziehungen garantieren aber bis heute eine gewisse Frequenz - und das genauso im Westen wie im Osten, meint ein slowenischer Soziologe.

Soziologie 30.05.2011

Trotz anderslautender Ideologien im theoretischen wie auch real existierenden Sozialismus war und ist der Sex dort nicht sehr unterschiedlich, sagt Ivan Bernik von der Universität Ljubljana in einem science.ORF.at-Interview.

Das gilt auch für das Verhältnis der Geschlechter: Während Frauen und Männer im Westen wie im Osten sehr ähnlich Sex haben, verbinden sie damit ganz andere Gefühle und Erwartungen.

science.ORF.at: Wenn Österreicher an die Zeit der 1970er Jahre in Ex-Jugoslawien denken, fallen Ihnen u.a. Sommerurlaube ein, die FKK-Kultur und damit verbunden eine irgendwie weniger komplizierte Sexualität: Ist das ein reines Klischee?

Porträtfoto von Ivan Bernik

IWM, Sven Hartwig

Ivan Bernik ist Professor für Soziologie an der Universität Ljubljana. Am 25.5. hat er am Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) in Wien den Vortrag "Is There a Post-Socialist Sexuality?" gehalten.

Liebe im Sozialismus - in Zitaten:

Alexandra Kollontai, russische Revolutionärin und Schriftstellerin schrieb 1918: "Die verbotene Tür aufreißen, die in die freie Luft führt auf einen Weg liebevollerer, innigerer und folglich auch glücklicherer Beziehungen zwischen den Geschlechtern, kann nur eine grundlegende Änderung der menschlichen Psyche - eine Bereicherung ihrer 'Liebespotenzen'. Letzteres verlangt mit unausweichlicher Gesetzmäßigkeit die grundlegende Umformung der sozial-ökonomischen Beziehungen, kurz, den Übergang zum Kommunismus."

Elfriede Friedländer schrieb 1920 in der "Sexualethik des Kommunismus": "Die ursprünglich polygame Veranlagung ist zu stark im Menschen, als dass sie durch äußere und innere Gewalt gänzlich unterdrückt werden könnten ... Und in der von wirtschaftlichen Kämpfen befreiten glücklicheren Zukunft des Sozialismus wird die wilde Vermischung und Polygamie in allen Formen das Sexualleben des Menschen beherrschen."

Buch zum Thema:

Beide Zitate stammen aus dem jüngst im Promedia Verlag erschienenen Buch "Die Linke und der Sex", herausgegeben von Barbara Eder und Felix Wemheuer.

Ivan Bernik: In Ostdeutschland hat es eine FKK-Bewegung gegeben, aber nicht in Jugoslawien. Slowenien galt in diesem Bereich noch als am liberalsten. Darüber wurden auch Witze gemacht, die Slowenen selbst haben sich aber nicht als derart liberal eingeschätzt. Prinzipiell war die Freikörperkultur im Tito-Jugoslawien in erster Linie ein Angebot an die Touristen, ähnlich übrigens wie im Spanien Francos. Die Einwohner haben das zwar akzeptiert, immerhin haben sie davon ja auch gelebt, aber selbst nur selten praktiziert.

Hat eine Vorliebe für FKK überhaupt etwas mit Sexualität zu tun?

Nicht so, wie man sich das vielleicht vorstellt. Laut einer US-Studie benehmen sich Nudisten nämlich äußerst asexuell. Sie kontrollieren sich sehr stark, alle Andeutungen von Sexualität sind verboten. Das ist das Gegenteil von Gelassenheit.

Zur grundsätzlichen Frage: Hat es so etwas wie eine realsozialistische Sexualität gegeben, im Unterschied zu einer "westlichen"?

Das ist nicht so einfach zu beantworten. Zum einen weil die sozialistischen Gesellschaften viel weniger homogen waren, als man sich das vielleicht im Westen vorgestellt hat. Das betraf auch die Teilrepubliken des ehemaligen Jugoslawien. Zum anderen weil es keine systematischen Studien zum Sexualverhalten in den sozialistischen Ländern gegeben hat. Während in den USA der erste Kinsey-Report bereits 1948 erschienen ist, hat es etwa in den Nachfolgestaaten Jugoslawiens bis in die 1990er Jahre gedauert, ehe große Studien zur Sexualität veröffentlicht wurden. Und das waren epidemiologische Untersuchungen in Zusammenhang mit AIDS. Einzelstudien aus anderen sozialistischen Ländern gab es aber schon: Sie zeigten, dass die These, wonach der Sozialismus auch in diesem Bereich "unterentwickelt" war, nicht stimmt. Laut DDR-Studien, die ab den 1960er Jahren durchgeführt wurden, hat sich die Sexualität ähnlich verändert wie im Westen, nur ein wenig langsamer.

Das heißt konkret was?

Die Ehe hat ab den 1960er Jahren ihre traditionell bevorzugte Rolle verloren, Sexualität zu legitimieren. Neben ihr sind andere Formen der Beziehungen entstanden, die Platz für Sex boten. Sie waren informeller, aber genauso wichtig. Das war im Westen und im Osten so. Auch wenn sich die Beziehungsformen geändert haben, sind fixe Beziehungen für Sex bis heute maßgeblich. Die Vorstellung, wonach Singles besonders viel Sex haben, stimmt überhaupt nicht. Der meiste Sex passiert nach wie vor in Beziehungen. Zahlreiche Studien belegen, wie sehr heute die serielle Monogamie vorherrscht: Die Beziehungen werden also sehr ernst genommen, zum Teil ernster als früher, aber sie sind kürzer geworden. In dieser Hinsicht hat sich die Sexualmoral nicht sehr geändert. Treue ist nach wie vor wichtig, wenn auch für kürzere Lebensabschnitte. Andere Dinge haben sich hingegen schon geändert, so ist die Toleranz gegenüber Minderheiten gestiegen. Im Sozialismus hat das auch ein bisschen länger gedauert.

Öffentliche Homosexuellen-Bekenntnisse wie z.B. Gay Pride Parades haben es auf dem Balkan bis heute aber nicht gerade leicht ...

Das ist sehr unterschiedlich. In Slowenien hat es z.B. schon im Sozialismus eine Homosexuellen-Bewegung gegeben. In anderen Teilen eher nicht, und dort haben es Minderheiten bis heute schwerer, in die Öffentlichkeit zu gehen. In Slowenien zumindest kann ich mit Sicherheit sagen, dass sich die Einstellungen geändert haben und die Leute toleranter geworden sind, obwohl es nicht viele große Städte gibt, die Zentren der entsprechenden Bewegung. Da sehe ich keine Unterschiede zum Westen.

Laut einer aktuellen Studie unterscheiden sich männliche und weibliche Jugendliche in Österreich stark. Junge Frauen wollen später eher heiraten und Kinder haben, junge Männer eher weniger. Gibt es diese Unterschiede auch in Slowenien?

Ja, und auch in fast allen anderen Ländern. Das Sexualverhalten der Mädchen hat sich in den vergangenen 30 Jahren viel stärker verändert als das der Burschen, sie hatten auch etwas nachzuholen. Mittlerweile haben beide in etwa die gleiche Anzahl an Sexualpartnern, sind in etwa gleich alt beim "ersten Mal" etc. Einen wichtigen Unterschied gibt es aber nach wie vor: die Art und Weise, wie Sex empfunden wird. Frauen verbinden Sex stark mit Emotionen und Liebe. Selbst wenn sie sehr jung damit beginnen, sagen sie: Der Grund war die Liebe. Die Mehrheit der Männer sieht das anders, ihnen ist der Sex um des Sex willen wichtig.

Wie passen die Wünsche der Frauen und Männer zusammen?

Ich denke, die Männer müssen sich heute mehr an die Frauen anpassen. Eine deutsche Jugendstudie hat herausgefunden: Die Männer sind emotioneller geworden, weil die Frauen das verlangen. Es entsteht unter dem Druck der Erwartungen der Frauen eine neue Gefühlskultur der Männer. Beziehungen sind auch für Männer wichtiger geworden, nicht zuletzt wegen des Sex, den es außerhalb nur selten für sie gibt.

Zurück zum Sozialismus: Sexualität hat zu Beginn der russischen Revolution eine wichtige Rolle gespielt, Stichwort "Befreiung der Frau". Glauben Sie, dass die damals entwickelten Ideen wichtig waren für die Entwicklung der Sexualität im Westen wie im Osten?

Ich bin da kein Spezialist, aber ich denke nein. Der Sex hat sich nicht wegen großer Ideen geändert, sondern aufgrund kleiner Umstände. Bis in die 1960er Jahre hat es eine sozialistische Ideologie der Sexualität gegeben: den asketischen Sozialismus, dem Protestantismus nicht unähnlich. Sex war ihm zufolge wichtig für die Reproduktion, sonst nicht. Als diese Phase vorbei war, gab es keine Ideologie mehr. Es kam zu sozioökonomischen Umbrüchen: Die Nachkriegsgeneration der 1960er Jahre war die erste, die in einer Wohlstandsgesellschaft lebte. Nicht nur im Westen, auf bescheidenerem Niveau auch in Osteuropa. Die alten sozialistischen Werte waren vergessen, es war wichtiger ein Auto zu haben als auf den Kommunismus zu warten.

Es hat also weder eine typisch sozialistische noch eine postsozialistische Sexualität gegeben?

So ist es. Sexualität war ein Bereich im Sozialismus, in dem die Leute relativ spontan handeln konnten, der Staat hat sich hier nicht mehr eingemischt. Deshalb gab es auch nur spontane, kleine Veränderungen. Das Ende des Sozialismus hat deshalb auch keinen Umbruch bedeutet. Es hat sich beim Sex nichts dramatisch geändert - außer dass etwa zum gleichen Zeitpunkt AIDS ein Thema wurde, was aber alle Gesellschaften betroffen hat.

Interview: Lukas Wieselberg, science.ORF.at

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