Schon jetzt steht fest: Luhmann hinterließ deutlich mehr Informationen als erwartet. Bis zu 70.000 Zettel stecken in den 24 Holzkästen - dreimal so viele wie anfänglich geschätzt.
Nachdem der jahrelange Rechtsstreit der Luhmann-Kinder um den Nachlass endlich beigelegt und der Zettelkasten an die Uni Bielefeld gegangen ist, blickt die Wissenschaft voller Erwartung auf die 1969 gegründete soziologische Fakultät.
Jahrzehntelang gewachsener Zettelkasten
Luhmann lehrte in Bielefeld bis 1993, fast 25 Jahre lang. Er versuchte zu erklären, wie Systeme funktionieren und probierte seine Systemtheorie an ungezählten Themen aus. Sein wissenschaftliches Werk umfasst 50 Monografien und Hunderte von Aufsätzen.
Eine Voraussetzung für diese Produktivität seien die vielen Zettel mit ausgeklügelten Querverweisen - also Verlinkungen - gewesen, vermuten Experten. Seit Ende der 40er Jahre hatte Niklas Luhmann seine Gedanken dem stetig wachsenden Zettelkasten anvertraut: sowohl chronologisch als auch mit Verweisen über die unterschiedlichen Themengebiete hinweg.
Was Luhmann nach seinem Tod 1998 hinterlassen hat, gleicht einem undurchdringlichen Wissensdschungel. Erst mit Hilfe der Querverweise lassen sich Pfade von Zettel zu Zettel schlagen. Luhmann-Schüler Professor André Kieserling will die Erwartungen aber nicht zu hoch stecken. "Wir finden viele Querverweise, aber doch nicht in der Menge, mit der wir gerechnet haben."
Marodes Papier, das ins Internet soll
Links:
Fast täglich erhalten Kieserling und sein Team Anfragen von Wissenschaftlern und Journalisten, die sich ihre eigenen Link-Pfade durch den unerforschten Papier-Dschungel erschließen wollen. Die Bielefelder lehnen bisher alle Anträge ab. Ein Grund ist der marode Zustand vieler Zettel. Sie sind teilweise stark vergilbt und eingerissen. Denn Luhmann verfasste seine Notizen nicht auf den üblichen Karteikarten, sondern meist auf dünnem Papier oder auch auf der Rückseite von Rechnungen und Kinderzeichnungen.
Wichtiger als einzelne Forschungsaspekte ist den Bielefeldern deshalb zunächst die Erfassung aller Daten. Ziel ist es, den gesamten Fundus so schnell wie möglich im Internet zu veröffentlichen.
"Dann können weltweit alle Interessierten auf den kompletten Zettelkasten zugreifen", verspricht Kieserling. Ein dreidimensionales Satellitenbild der Luhmann-Welt sozusagen, in dem sich dann orientieren oder verlaufen mag, wer will.
Auf der Suche nach der Ordnung
Doch dazu müssen zunächst alle 70.000 Zettel gelesen, eingescannt und abgeschrieben werden. Die elektronische Datenbank soll auch die Verweisungsstruktur abbilden und über Schlagworte einen gezielten Zugang zu den verschiedenen Themen ermöglichen. Eine Aufgabe, der sich der Soziologe Johannes Schmidt widmet. "In den nächsten Jahren wird es um die reine Erschließung von Quellen gehen", sagt er.
Erst danach wird sich in weiteren Forschungen erweisen können, ob es Luhmann tatsächlich gelungen ist, sein immenses Wissen in einem Zettelkasten so zu organisieren, dass die Verlinkungen zu neuen Erkenntnissen führen, die über die Summe der einzelnen Notizen hinausweisen.
André Kieserling ist sicher: "Es muss eine Ordnung in dem Kasten geben, die wir noch nicht vollkommen erfasst haben."
Beate Depping, dpa
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