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Mathematische Formeln auf einer Tafel.

"Kinder mit Beeinträchtigung nicht behindern"

Bereits im Vorschulalter sind Kinder an der Natur interessiert und können Chemie und Physik verstehen. Doch das Bildungssystem enthält ihnen diese Fächer oft noch vor. Werden Chemie und Physik jedoch schon im Kindergarten vermittelt, steigt meist auch später das Interesse an naturwissenschaftlichen Studien.

Bildung 06.07.2011

Vom Zugang zu den Naturwissenschaften sind jedoch nicht nur Vorschulkinder meist ausgeschlossen. Vor allem der Nachwuchs aus Familien mit Migrationshintergrund, Kinder mit Beeinträchtigung und Sprösslinge von bildungsfernen Eltern, aber auch hochbegabte Kinder bekommen Naturwissenschaft oft unterdurchschnittlich vermittelt, sagt die deutsche Bildungswissenschaftlerin Gisela Lück.

Sie holt diese Gruppen in das Bildungssystem, indem sie mit Experimentierworkshops Chemie und Physik vermittelt. Denn naturwissenschaftliches Wissen entscheidet im späteren Leben über die Chancen am Arbeitsmarkt.

science.ORF.at: Ab welchem Alter sollte Kindern Chemie bzw. Naturwissenschaft vermittelt werden?

Porträt Gisela Lück

Privat

Gisela Lück ist Professorin für Didaktik der Chemie an der Universität Bielefeld und Lehrbeauftragte an der Freien Universität Bozen sowie Mitglied in mehreren wissenschaftlichen und pädagogischen Beiräten und Gesellschaften.

In Deutschland erhielt Gisela Lücks Projekt zur Chemievermittlung für Eltern mit Migrationshintergrund die Auszeichnung "Land der Ideen".

Gisela Lück: Landläufig herrschte noch vor zehn Jahren die Meinung vor, dass wir erst in Klasse sieben mit Naturwissenschaften beginnen sollten, insbesondere mit Chemie und Physik, weil erst dann die Jugendlichen abstrakt denken können. Doch wir wissen heute, dass nicht das abstrakte Denken notwendig ist, um Naturwissenschaften zu verstehen, sondern das kausale Denken: "Immer dann, wenn" oder "die Kerze verlischt, wenn man ihr Sauerstoff entzieht". Das verstehen Kinder schon mit fünf Jahren sehr gut. Es ist also genau das richtige Alter, um Kinder an Naturphänomene und deren Deutung heranzuführen.

Sie untersuchen frühkindliche Vermittlung von Naturwissenschaften seit fast 20 Jahren. Was waren dabei wesentliche Ergebnisse?

Erstens das Interesse an freiwilligen Experimenten: 70 Prozent der Kinder in einer Kindergarteneinrichtung kommen regelmäßig und freiwillig zum Experimentieren, auch wenn es Alternativen wie Nichtstun, im Gruppenraum sitzen oder etwas anderes zu tun gibt.

Zweitens können sich Kinder gut erinnern. Ein halbes Jahr nach den Experimenten wissen die Kinder im Detail für viele Experimente, welche Materialien man braucht und wie man das Experiment durchführt. Und sie haben es auch verstanden. Sie wissen, warum das Experiment so funktioniert und können die Deutung rekapitulieren.

Drittens: Wenn man naturwissenschaftliche Themenfelder früh in den Blickpunkt der Kinder bringt, entscheiden sie sich später vermutlich lieber für einen naturwissenschaftlichen Beruf. Das ist wichtig für den Fachkräftemangel der Industrie. Wir haben 1.375 Chemiestudierende befragt, warum sie sich mit Chemie auseinandersetzen, obwohl es auch leichtere Studiengänge gibt. 25 Prozent der Studierenden sagen, weil sie als Kinder liebevoll an das Thema herangeführt wurden.

Gilt das nur für Chemie oder für alle naturwissenschaftlichen Fächer?

Naturwissenschaft in der Volksschule in Österreich:

Gisela Lück ist Gutachterin für das Projekt IMST, Innovationen machen Schulen Top, des Instituts für Unterrichts- und Schulentwicklung der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt.

Mit der naturwissenschaftlichen Ausbildung von Pädagoginnen und Pädagogen in der Früherziehung beschäftigt sich zum Beispiel das Institut für Innovative Pädagogik und Inklusion der Kirchlichen Pädagogischen Hochschule in Graz.

Früher dachte man, dass man für Biologie weniger logisch und mehr phänomenologisch, also beschreibend denken muss: Wie unterscheidet sich eine Katze vom Hund, wie sieht eine Tulpe aus, wie eine Rose? Man hat im Kindergarten ausschließlich Biologie gebracht. Dadurch wurde Biologie in der Schule sehr beliebt, auch bei Lehrerinnen und Lehrern. Physik und Chemie wurden aber hintangestellt.

Wir müssen die unbelebte Natur gegenüber der belebten Natur stärken. Die unbelebte Natur, also Chemie und Physik, sollten gemeinsam mit Biologie vermittelt werden. In einer Gurke stecken 90 Prozent Wasser, also Chemie. Wir kämen nicht auf die Idee, zu sagen, dass in der Gurke zehn Prozent belebte und 90 Prozent unbelebte Natur stecken.

Heißt das, wir sollten weg von den Disziplinen?

Wir sollten die Natur am Anfang nicht in Fächereinheiten trennen. Die Natur präsentiert sich dem Kind ja auch nicht in Fächern. Diese Trennung sollte erst später in den weiterführenden Schulen kommen.

Wie muss Naturwissenschaft für Kinder vermittelt werden, um interessant zu sein?

Technologiegespräche in Alpbach

Von 25. bis 27. August finden im Rahmen des Europäischen Forums Alpbach die Technologiegespräche statt, organisiert vom Austrian Institute of Technology (AIT) und der Ö1-Wissenschaftsredaktion. Das Thema heuer lautet "Technologie als Chance - Verantwortung für die Zukunft".

Davor erscheinen in science.ORF.at regelmäßig Interviews mit den bei den Technologiegesprächen vortragenden oder moderierenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern. Gisela Lück nimmt am 26. August am Arbeitskreis "Forschen im Klassenzimmer: Neues Lernen in den Naturwissenschaften" teil.

Beiträge zu den bisherigen Technologiegesprächen

Wir bieten Jugendlichen in Sozialeinrichtungen im Alter von 14 oder 15 Jahren Experimentiereinheiten an, die sie wirklich interessieren: zum Beispiel Kosmetik für Mädchen. Oder Experimente mit Farben. Die machen immer Spaß. Das sind leichte, gängige, gut funktionierende Experimente, bei denen die Jugendlichen Kompetenz erleben und Dinge mit nach Hause nehmen können: eine selbst hergestellte Creme oder ein Haar-Gel. Am Anfang gibt es Ressentiments. Aber nach einigen Nachmittagen kommt Interesse auf.

Aber wir müssen zu diesen Einrichtungen hingehen und die Jugendlichen aufsuchen. Auch Sozialarbeiter müssen in Naturwissenschaften gefördert werden. Wenn die keine naturwissenschaftliche Bildung haben, geben sie sie auch nicht weiter.

Kann jedes Kind Chemie leicht zu verstehen?

Wichtig ist, wie wir mit denen umgehen, die mit dem Bildungssystem nicht mitkommen: Kranke und traumatisierte Kinder, Kinder mit Beeinträchtigung und Kinder aus bildungsfernen Familien oder mit Migrationshintergrund, die keine Bildungschancen bekommen. Sie drohen aus dem Bildungssystem rauszufallen und sind für die Naturwissenschaften vielleicht für immer verloren.

Nehmen Sie ein blindes Mädchen oder einen blinden Jungen: Die lernen wahrscheinlich nicht Chemie, weil man sagt, dass man dafür sehen können muss. Obwohl zuerst gesagt wurde, dass man dafür abstrakt denken können muss, ist das Bildungssystem jetzt ungerecht und sagt, es kommt auf das Sehen an. Doch auch diese Kinder können kombinieren. Wir wissen, dass Kinder mit Sprachstörungen diese sehr gut durch soziale Kompetenz und durch das Schärfen anderer Sinne kompensieren. Das soll man sich zunutze machen. Wir müssen alle ins Boot nehmen. Kein Bildungssystem darf ein Kind mit Beeinträchtigung behindern.

Muss man da auch bei den Eltern ansetzen?

Ö1-Sendungshinweis:

Über den Nutzen der Frühförderung berichtet auch Wissen Aktuell am 6.7. um 13:55.

Themenschwerpunkt:
Die Unesco hat 2011 zum Internationalen Jahr der Chemie ausgerufen. Auf science.ORF.at werden laufend Artikel zum Thema erscheinen. Auch Radio Österreich 1 widmet dem Jahr der Chemie einen Schwerpunkt.

Weitere Informationen zum Jahr der Chemie findet man auf der internationalen Seite der Unesco und dem österreichischen Pendant.

Wir halten Workshops für türkischsprachige Eltern ab, weil sie mit ihren Kindern experimentieren wollen. Die kommen freiwillig, weil sie ihren Kindern Bildungschancen vermitteln wollen, und wir können den Ansturm kaum bewältigen. Eltern sollten ihren Kindern eine Wertschätzung der Naturwissenschaften weitergeben. Diese Wertschätzung ist aber vor allem bei bildungsfernen Eltern sehr gering. Die sagen: "Das Fach hab ich auch nicht gehabt. Macht nichts, wenn du da einen Fünfer hast." Das muss sich ändern. Die Eltern müssen sagen: "Das ist wichtig, sonst bekommst du später keinen Job."

Wodurch kann man das fördern?

Es gibt nicht nur einen richtigen Weg, wie immer, wenn es um Menschen geht. Der erste Schritt ist, sich überhaupt bewusst zu machen, dass es Gruppen gibt, die an Bildung nicht partizipieren. Es ist die Aufgabe unseres Bildungssystems, den Kindern entgegenzukommen. Das gilt auch für besonders begabte Kinder. Dieser Schatz für jedes Land darf uns nicht verloren gehen. Wir orientieren uns viel zu sehr am Mittelmaß.

Interview: Mark Hammer, science.ORF.at

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