Standort: science.ORF.at / Meldung: "Was man von rabbinischen Texten lernen kann"

Jemand liest aus einem hebräischen Text, man sieht nur den Daumen der Hand.

Was man von rabbinischen Texten lernen kann

Die traditionellen Texte des Judentums bestehen nicht nur aus religiösen Vorschriften, sondern auch aus Verhaltenshinweisen für den Alltag. Zum Teil aus der Antike stammend, bieten sie dennoch für die aktuelle Bildungsdebatte eine Menge Anknüpfpunkte. In mancher Hinsicht könnten sie sogar als Vorbild dienen, meint der Judaist Gerhard Langer.

Bildungsdebatte 19.08.2011

Vor kurzem hat er seine Antrittsvorlesung an der Universität Wien unter den Titel "Rabbinisches zu Lernen und Lehren jenseits von PISA" gestellt. Im science.ORF.at-Interview fasst er die wichtigsten Punkte zusammen - u.a. warum es gut ist, wenn es "zugeht, wie in einer Judenschule".

Gerhard Langer:

Porträtfoto von Gerhard Langer

Universität Wien

Gerhard Langer ist stellvertretender Vorstand des Instituts für Judaistik an der Universität Wien.

science.ORF.at: Wie sind Sie auf die Idee gekommen, die rabbinischen Traditionen für die aktuelle Bildungsdiskussion fruchtbar zu machen?

Gerhard Langer: Eine Antrittsvorlesung soll erläutern, was das persönliche Anliegen eines neuen Professors ist. Ich halte die alten Texte der jüdischen Überlieferung nicht für verstaubt, sondern für die Gegenwart relevant. Und wir können von ihnen lernen.

Inwiefern?

In vielerlei Hinsicht. Der vielleicht wichtigste Punkt ist: Die rabbinische Tradition hat den Gelehrten ins Zentrum gerückt, als idealen Menschen. Dieser ideale Mensch verbindet religiöse Gelehrsamkeit mit Lebensweisheit und lässt daraus ein gerechtes, solidarisches Handeln folgen, er verknüpft Wissen mit Tun. Die rabbinische Tradition diskutierte nicht nur die Frage, wie man lehren und lernen soll - wie man etwa einen PISA-Test bestehen soll -, sondern welche Persönlichkeiten ausgebildet werden sollen.

Wenn wir die Menschenbildung in der Bildungsdiskussion vernachlässigen, bilden wir reine Maschinen aus, die Aufgaben verrichten können, aber nicht reife Menschen, die auch in der Lage sind, schwierige Probleme verantwortungsvoll zu lösen, und zwar so, dass die Gesellschaft eine bessere als die aktuelle werden könnte.

Rabbinische Literatur:

Die rabbinische Periode beginnt nach der Zerstörung des Tempels in Jerusalem 70 Jahre nach unserer Zeitrechnung und endet etwa mit der Jahrtausendwende. Die rabbinische Literatur wie Talmud und Midrasch ist gekennzeichnet durch eine bestimmte Gattung und Form, sie wird später in Kommentaren weiter bearbeitet. Diese Kommentarliteratur gilt in den meisten Traditionen nicht direkt als rabbinische Literatur. "Das ist eigentlich ein künstlicher Schnitt, man könnte sie durchaus auch weiterführen bis in die Moderne", sagt Gerhard Langer. Die Tradition des Kommentierens wird bis heute fortgeführt.

Also das Gegenteil des heutigen Ziels der Employability, der Beschäftigungsbefähigung für den Arbeitsmarkt?

Genau, wobei es natürlich auch in der Antike eine Ausbildung für einen konkreten Beruf gegeben hat. Aber gerade in der rabbinischen Literatur ging es auch um das Lernen als Lernen - die Thora als Thora -, es war nicht entscheidend, was man damit in der Berufspraxis anfangen konnte. Vor allem zu Beginn waren die Thoragelehrten oft auch in weltlichen Berufen tätig, die sie nebenbei ausgeübt haben - so wie einige moderne Schriftsteller bei uns, die im Brotberuf etwa Ärzte oder Juristen waren.

Diese Doppelberufe gab es, das Ziel war aber v.a. in späterer Zeit, von der Lehre leben zu können. Wenn man das auf heute hochrechnen würde, käme eine Welt aus lauter Uni-Professoren heraus, und die wäre natürlich auch nicht gerade erstrebenswert. Schon die rabbinische Literatur sagt: Man soll nicht in einem Ort leben, wo Gelehrte regieren, weil sie dafür scheinbar nicht geeignet sind. Dass man aber etwas lernt, das sich nicht nur und in erster Linie auf ein konkretes Berufsfeld bezieht, sondern auf ein Menschsein in Gemeinschaft, und aus dem ein Handeln folgt, das ist zentral.

Welches Wissen wird im Sinne der rabbinischen Literatur gelehrt?

Die klassischen Texte haben versucht, möglichst alle Wissensgebiete abzudecken. Der religiöse Bereich im engeren Sinn war dabei ein wichtiger, aber nur kleiner Teil. Es ging genauso um Rechtsfälle, Naturwissenschaften, Medizin, Astronomie, Umwelt, Wirtschaft und natürlich Ethik: Wie soll man sich gegenüber der Schöpfung verhalten, wie gegenüber dem Partner oder den Mitmenschen? Wie ist ein solidarisches Wirtschaften möglich, das nicht auf Ausbeutung beruht? Etc.

Die Schule hatte also allgemeinbildenden Charakter. Gibt es auch Empfehlungen für Struktur oder Form der Lehre?

Die rabbinische Ausbildung war mehrgliedrig: In den Grundschulen hat eine größere Anzahl von Kindern ab etwa sechs Jahren gepaukt. Sie haben durch ständige Wiederholungen Texte auswendig gelernt. Das Prinzip lautet: Bevor ich eine Sache nicht gut kann, soll ich nicht zur nächsten übergehen.

Ein weiterer für heute relevanter Punkt: Die begabten Schüler sollten sich neben die weniger begabten setzen, um durch sie zu lernen, wie überhaupt das Lernen nur in intensiver gemeinsamen Anstrengung der Schüler und nicht allein erfolgen soll. Das steht im Gegensatz zu der heutigen Meinung, wonach die weniger Begabten das Niveau einer Klasse senken würden.

Ganz wichtig war auch eine individuelle Betreuung durch und ein direkter Bezug zum Lehrer. Es gibt Empfehlungen für eine Klassenobergrenze von 25 Schülern. In den höheren Studien bleiben nur mehr wenige Studierende, was ein Traumbetreuungsverhältnis ergibt. Dazu haben die Rabbinen auch öffentliche Vorträge gehalten, die der breiten Bildung gedient haben.

Wenn Sie drei Punkte nennen würden, bei denen man sich heute konkret an das rabbinische Vorbild halten soll, welche wären das?

Erstens die Form des Lernens, bei der das Wiederholen, Lernen und Diskutieren in Gruppen zentral ist sowie intensive Gespräche zwischen Lehrern und Schülern in einer Art Gesamttagesschule.

Zweitens die Verbindung von Lehre und Ethik: Angehalten zu werden, dass das Gelernte auch gelebt wird; nicht unbedingt im Sinne besserer Berufschancen, sondern im Sinne einer Lebensführung. Das wird heute zu wenig unterrichtet.

Drittens können wir aus vielen Beispielen ersehen, wie zentral eine gute Finanzierung des Studiums für alle ist. Die war auch damals schwierig, je weiter und länger ein Studium ging, umso schwieriger. Es gibt Erzählungen, die über die Armut der Schüler berichten. Die Lehrer werden darin zum Teil angehalten ihre Schüler einzuladen.

Gibt es auch Bereiche, wo man sich keine Vorbilder nehmen sollte?

Natürlich. In der Regel geht es in den rabbinischen Texten nur um die Bildung von Männern, auch wenn es ein paar anderslautende Quellen gibt. Das ist heute natürlich inakzeptabel.

Ich habe vor 20 Jahren zum letzten Mal den Ausspruch gehört: "Hier geht es ja zu, wie in einer Judenschule!" Gesprochen hatte Kurt Rudolf Fischer, Philosoph und Jude, an der Uni Wien, selbstironisch gemeint hatte er den Lärmpegel in seiner Vorlesung: Woher kommt der Ausspruch und ist er eigentlich antisemitisch?

Schon in rabbinischen Texten gibt es Bemerkungen, dass man sich nicht über den Lärm beklagen darf, wenn man an einer Schule vorbeigeht: Der Unterricht findet nicht leise statt, nicht nur in den Köpfen, sondern am ganzen Körper. Wenn der Mensch unterrichtet wird, ist der ganze Körper am Lernen, d.h. man muss sich bewegen, laut zitieren und Fragen stellen.

Das Frage-Antwort-Verhältnis von Lehrern und Schülern war sehr wichtig, dabei lernen auch die Lehrer von den Schülern - all das geschieht laut. Und das ist durchaus natürlich, wenn man an den Lärmpegel von Schulklassen denkt, die einem auf der Straße entgegenkommen. Die rabbinische Tradition empfiehlt das laute Memorieren von Texten, dadurch lernt man offensichtlich besser. Auch in der Öffentlichkeit wurde laut memoriert, und oft kamen die Leute dadurch ins Gespräch.

Es gibt in den rabbinischen Texten auch kuriose Anweisungen wie "Stehe nicht nackt vor einer Leuchte". In welchem Zusammenhang stehen und wie wichtig waren sie?

Es gibt auch noch den Ratschlag: "Willst du dich aufhängen, so hänge dich an einen großen Baum!" Was entscheidend ist: Bei all diesen Lehreinheiten wechselt Lebenspraktisches mit Theoretischem ab. Das Vorurteil besagt ja, dass das talmudische Wissen überaus komplex und kompliziert sei, dass es - wenn man es einmal versteht - ein reines Geistestraining darstellt. Manche meinen, dass es deshalb so viele jüdische Schachspieler gibt. Das mag schon stimmen, aber in vielen Bereichen geht es neben diesem geistigen Training auch um sehr alltägliche und konkrete Probleme, die oft mit Witz und Ironie behandelt werden.

Interview: Lukas Wieselberg, science.ORF.at

Mehr zu dem Thema: