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Schwammspinnerraupe

Ein Gen für Raupenirrsinn

Raupen des Schwammspinners reagieren auf bestimmte Virusinfektionen mit selbstmörderischem Verhalten. Das hilft den Erregern bei ihrer Vermehrung. Biologen haben nun das Gen gefunden, das die Raupen in die Agonie treibt.

Infektion 12.09.2011

"A Gene for an Extended Phenotype" lautet der Titel einer Studie in der aktuellen Ausgabe von "Science". Zweifelsohne eine Anspielung auf das argumentativ beste und, mangels Pop-Faktor, eher selten gelesene Buch von Richard Dawkins: "The Extended Phenotype".

Darin formulierte der britische Biologe eine These, die manche Kollegen als Provokation empfanden. Die Gene, sagt Dawkins, sind die Einheit der natürlichen Selektion - und Körper im Prinzip nur Behälter, die die Vermehrung der Gene optimieren. Wie der Behälter (der "Phänotyp") beschaffen ist, wie er aussieht und sich verhält, hängt davon ab, welche Gene darin zusammenkommen:

Damit ist nicht nur die übliche Chromosomenmischung von Spermien und Eizellen gemeint, sondern auch das Zusammentreffen von Wirts- und Parasitengenen in ein- und demselben Körper. Von einem solchen Fall berichten nun Forscher um Kelli Hoover von der Pennsylvania State University. Hauptakteure der Studie: eine Raupe und ein Virus.

Zu Tode fressen

Studien

"A Gene for an Extended Phenotype", Science (Bd. 333, S. 1401; doi: 10.1126/science.1209199).

"Can the common brain parasite, Toxoplasma gondii, influence human culture?" Proceedings of the Royal Society B (doi: 10.1098/rspb.2006.3641).

"Normalerweise sind Schwammspinnerraupen nachtaktiv", sagt Hoover. "Sie verstecken sich untertags in Rindenspalten oder im Boden, um sich vor Vögeln zu schützen. In der Nacht klettern sie den Baum hinauf und fressen Blätter." Sofern sich die Tiere mit Baculoviren infizieren, ist es allerdings vorbei mit der Vorsicht.

Dann nämlich klettern die Raupen auch am helllichten Tag ins Blätterwerk und fressen unentwegt. Mehr noch: Sie fressen sich förmlich zu Tode, sterben auf den Blättern, lösen sich zu einer zähen Masse auf, die auf andere Blätter tropft - und infizieren auf diese Weise weitere Raupen, die sich an den Blättern gütlich tun. Das Verhalten ist so bizarr, dass es bereits im 19. Jahrhundert auffiel. Der Insektenforscher O. Hofmann beschrieb es 1891 als "Wipfelkrankheit", kurz darauf wurden auch die Baculoviren als Urheber des Raupenirrsinns identifiziert.

Schwammspinnerraupe

Michael Grove

Das traurige Ende einer infizierten Raupe

Blockade im Hormonhaushalt

Wie die Viren es schaffen, ihre Wirte derart zu manipulieren, blieb allerdings bis heute ein Rätsel. Kelli Hoover präsentiert nun die Lösung: Sie hat einige Kandidatengene aus den Viren entfernt und damit Raupen im Labor infiziert. Von den genmanipulierten Erregern waren nur jene unwirksam, denen das Gen EGT im Erbgut fehlte. EGT ist ein Enzym, das in den Hormonhaushalt der Raupe eingreift.

Konkret hemmt es das Häutungshormon Ecdyson, verhindert damit die regelmäßigen Ruhephasen der Raupen und lässt sie quasi im Fressmodus einrasten. Für das Virus ist das gut: "Wenn sich der Wirt häutet anstatt zu fressen, wird er nicht größer", sagt Hoover. "Mehr zu fressen bedeutet mehr Biomasse und letztlich mehr Viren."

Auch bei Menschen?

Das mag ein spektakulärer Fall von Wirtsmanipulation sein, der einzige ist er beileibe nicht. Tollwutviren verändern etwa das Verhalten ihrer Wirte in ihrem Sinne, ebenso jene Einzeller, die die Toxoplasmose auslösen. An Toxoplasmose erkranken häufig Katzen (Haus- und Wildkatzen etwa), aber die Krankheit kann auch andere Säugetiere betreffen. Mäuse, die den Erreger Toxoplasma gondii in sich tragen, verlieren durch die Infektion ihre natürliche Vorsicht, streunen artuntypisch herum und werden dadurch öfter von Katzen gefressen, die sich ihrerseits mit Toxoplasma gondii infizieren. Womit sich der Kreis schließt.

Auch Menschen können von dem Erreger infiziert werden, was den US-Ökologen Kevin D. Lafferty vor ein paar Jahren zu einer recht verwegenen Hypothese inspiriert hat. Statistiken zufolge gibt es in Gesellschaften mit häufigen Toxoplasma-Infektionen mehr Neurotiker als anderswo. Lafferty vermutet, dass das kein Zufall ist und im Menschenhirn etwas Ähnliches vor sich geht wie im Mäusehirn. Und dass sogar Mentalitätsunterschiede zwischen Nationen auf diese Weise erklärbar sein könnten.

Ob das nun stimmt oder nicht - zur Maus gibt es jedenfalls einen wesentlichen Unterschied: Der Kreisschluss der Infektion gelingt dem Parasiten in diesem Fall nicht. Haus- und Wildkatzen fressen zum Glück keine Menschen.

Robert Czepel, science.ORF.at

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