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KZ Sachsenhausen

Das Unvergleichliche vergleichen

Völkermorde sind das Thema eines derzeit in Wien stattfindenden Fachkongresses. "In den 80er Jahren wurde mehr räsoniert als geforscht", sagt die Wiener Historikerin Sybille Steinbacher über die aufgeregte deutsche Historikerdebatte zur Frage der Einzigartigkeit des Holocaust.

Völkermord 25.10.2011

Was damals übersehen wurde: Die These der Einzigartigkeit sei zunächst eine rein religiös-philosophische innerhalb des Judentums gewesen. Erst später wurde der Begriff auch außerhalb des Judentums aufgegriffen - und zum Teil für Meinungskämpfe verwendet.

Kann man eine klare Grenze zwischen den Begriffen, Krieg, Massen- und Völkermord ziehen?

Mit diesem Thema beschäftigt sich die vergleichende Genozidforschung, die sogenannten Genocide Studies: Sie thematisieren den Kontext von Gewaltexzessen und untersuchen unter anderem auch, welche Rolle der Krieg für den Völkermord spielt. Darum gehören diese Begriffe Krieg, Massen- und Völkermord unmittelbar zusammen. Krieg ist, könnte man sagen, ein Ermöglichungszustand für Gewaltexzesse.

Zur Person

Sybille Steinbacher forscht am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien zu den Themen Nationalsozialismus; Holocaust; Faschismus im europäischen Kontext; Gewalt-, Diktatur- und Genozidforschung; Sozial- und Kulturgeschichte der Sexualität im 20. Jahrhundert.

Aber eine Grenze ist zu ziehen?

Ich glaube es geht eher um das Zusammenspiel als um Grenzen. Wie wirken Krieg, Gewalt und Verfolgungsinteressen zusammen? Wie stimulieren sie einander? Wie schafft Krieg die Voraussetzung für exzessive Gewalt? Das sind Fragen, mit denen sich die Genozidforschung beschäftigt.

Im Jahr 1948 wurde die UN-Konvention zum Völkermord beschlossen. Darunter fällt demnach nicht nur die Tötung von ethnischen oder religiösen Gruppen, sondern auch deren aktive Hinderung an der Fortpflanzung, also etwa Zwangssterilisierungen. Demnach müsste man die Sterilisierungen der Aborigines in Australien oder das schwedische Eugenik-Programm, das bis in die 70er Jahre lief, auch als Völkermord bezeichnen.

Das ist eine Frage der juristischen Definition - und damit sind wir bei der Krux des Genozid-Begriffs: Er ist sehr überladen, man könnte auch sagen: heillos überfordert mit dem, was er alles leisten soll. Er ist zunächst ein juristischer Begriff und geht von der Vernichtungsabsicht aus. Zugleich ist es ein Begriff, den die Historiker verwenden, um ganz unterschiedliche Ereignisse miteinander in Bezug zu setzen.

Wenn Sie etwa an den Völkermord an den Herero zu Beginn dieses Jahrhunderts denken oder an den nationalsozialistischen Judenmord oder die Verbrechen in Ruanda - alles wird als Genozid bezeichnet. Der Genozid-Begriff ist außerdem moralisch extrem aufgeladen. Und er wird sehr inflationär gebraucht - auch Tierschützer und Abtreibungsgegner verwenden ihn für ihre Zwecke. Wir als Historiker haben Schwierigkeiten, den Begriff als eigene Kategorie zu verwenden, weil eben so viel darin steckt. Daher ist es auch umstritten, inwieweit der Begriff für uns brauchbar ist.

Das heißt, auf eine Antwort in Bezug auf Australien und Schweden würden Sie sich nicht einlassen wollen.

Genau.

Tagung

"Der Holocaust und die Geschichte der Völkermorde im 20. Jahrhundert. Zur Bedeutung und Reichweite des Vergleichs", veranstaltet vom Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien und vom Fritz Bauer Institut, Frankfurt am Main; 24. und 25. Oktober 2011, Aula am Campus der Universität Wien, 9., Spitalgasse 2, Hof 1;

Sind Völkermord und Genozid synonym?

Auch das wird in der Fachgemeinde diskutiert. Der Völkermordbegriff ist älter, er stammt aus dem 19. Jahrhundert. Wir hatten auf unserem Kongress soeben einen interessanten Vortrag über die Wahrnehmung des Mords an den Armeniern im Jahr 1915: In diesem Kontext ist der Begriff bereits aufgetaucht, auch in juristischen Zusammenhängen.

Genozid ist ein Kunstwort, wurde von Raphael Lemkin nach dem Zweiten Weltkrieg geprägt und unmittelbar danach auch in die UN-Völkermord-Konvention aufgenommen. Das Entscheidende daran ist die Vernichtungsabsicht. Und die gilt es dann auch nachzuweisen in juristischem Zusammenhang.

Der soeben in Wien stattfindende Fachkongress versucht nun die Völkermorde der Geschichte zu vergleichen. Was versprechen Sie sich davon?

"Vergleich" ist fast zu eng gefasst. Wir interessieren uns für den Kontext. Wir wollen wissen, welche gesellschaftlichen und politischen Umstände, welche ethnischen Konflikte dazu beigetragen haben, dass es überhaupt so weit kommen konnte. Das sind Fragen, die sowohl die vergleichende Genozidforschung als auch die Holocaustforschung stellen. Das sind zwei unterschiedliche Disziplinen, zwischen denen es bisher kaum Austausch gegeben hat. Unser Kongress soll also auch so etwas wie ein Brückenschlag sein.

War der Holocaust einzigartig unter den Völkermorden? Und wenn ja, inwiefern?

Jedes Gewaltereignis ist sozial und politisch etwas Besonderes, das ist klar. Was den Begriff der Einzigartigkeit betrifft, muss man zunächst etwas über seine Herkunft sagen: Im deutschen Historikerstreit der 80er Jahre war die Einzigartigkeit ein sehr gängiger Terminus. Dieser Streit war ja vor allem eine moralisch-politische Auseinandersetzung, ein Meinungskampf. Der Singularitätsbegriff wurde vor allem gegen Ernst Nolte verwendet, der an den Vergleich geschichtsrevisionistische Deutungen geknüpft hat. Um dem etwas entgegenzusetzen, hat man die Einzigartigkeit des Holocaust betont.

Man muss auch wissen, und das ging im deutschen Historikerstreit leider völlig unter, dass die Auseinandersetzung mit der Einzigartigkeit ein innerjüdischer Diskurs war, der 1967 begonnen hat. Und zunächst war das ein rein religiöser, philosophischer Diskurs, bei dem es um die jüdische Identität ging und um den Holocaust als messianisches Erlebnis. In diesem Zusammenhang hat der Begriff auch seinen Platz. Er wurde erst später von den Historikern übernommen, die dann gewissermaßen eine empirische Suche nach der Einzigartigkeit gestartet haben.

Wäre ein Völkermord-Vergleich, wie er nun auf dem Kongress in Wien passiert, in den 80er Jahren noch ein Tabu gewesen?

Ja insofern, als in den 80ern zwar viel über Ausschwitz geredet wurde, aber doch sehr faktenfern. Es wurde mehr räsoniert als geforscht. Aber der Historikerstreit hat keine Forschungen angeregt, er war historiographisch unergiebig.

Erst in den 90er Jahren hat eine Normalisierung eingesetzt, sowohl politisch wie auch geschichtswissenschaftlich. Seitdem wird über den Holocaust geforscht wie zu jedem anderen historischen Geschehen auch.

Dazu kam, dass in den 90er Jahren auch viele Archive geöffnet wurden. Dadurch konnten viele Forschungsprojekte zu den Schauplätzen des Massenmordes in Osteuropa begonnen werden.

Als Alleinstellungsmerkmal des Holocaust wird häufig die Industrialisierung der Tötungsmaschinerie genannt.

Damit ist die Mordmethode gemeint, vor allem in den Vernichtungslagern. Dazu muss man anmerken: Ein großer Teil der Juden ist bei Erschießungen umgekommen, die Vernichtungslager waren nur ein Teil des Mordprogrammes. Die Tötungsart gehört dennoch zu den Besonderheiten des Judenmordes, das Gleiche gilt für das Ausmaß des Mordes, den Plan und den Vernichtungswillen. Letzterer hielt auch noch an, als der Krieg bereits klar verloren war. Im Sommer 1944 wurde erst der Höhepunkt des Massenmordes erreicht.

Historiker aus Kambodscha würden unsere europäische Sicht der Dinge vermutlich nicht ganz teilen.

Keine Frage, es ist auch ganz wichtig, die Massenmorde in Kambodscha zu untersuchen. Die Verbrechen unter Pol Pot in den 70ern wurden lange kaum wahrgenommen und vor allem nicht unter dem Aspekt des Völkermordes diskutiert. Das geschieht nun. Und wie gesagt: Die Singularitätsdebatte ist eine religiöse Debatte. Es geht nicht darum, eine Hierarchie von Gewaltexzessen zu bilden, das kann nicht das Interesse der Genocide Studies und der Holocaustforschung sein.

Mit der Ablehnung einer Hierarchie macht man sich politisch noch nicht verdächtig?

So würde ich es sagen. Jeder Gewaltexzess hat seine sozialgeschichtliche Bedeutung und muss untersucht werden.

Die UN-Völkermord-Konvention wurde erst in den 90ern konsequenter umgesetzt, zumindest gab es einige Urteile vor dem Internationalen Gerichtshof, etwa in Bezug auf Jugoslawien und Ruanda. Glauben Sie, dass diese Praxis auch die politische Realität verändert?

Ich denke, dass sich die Wahrnehmung verändert hat. Dass es eben möglich ist, in genozidale Gesellschaften einzugreifen. Ruanda ist das beste Gegenbeispiel: Dort wurde nämlich nicht eingegriffen. Ich habe die Hoffnung, dass die Aufmerksamkeit der Welt größer wurde durch die Gerichtshöfe, die es mittlerweile gibt.

Interview: Robert Czepel, science.ORF.at

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