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Eichelhäher

Vögel planen für die Zukunft

Psychologen zufolge gilt vorausschauendes Verhalten als typisch menschliche Eigenschaft. Biologen kontern in einer aktuellen Studie: Auch Eichelhäher seien mit planender Vernunft ausgestattet - zumindest, wenn es ums Fressen geht.

Verhalten 02.11.2011

Mentale Zeitreisen

Zugegeben, die Bausparvertragsmentalität mag nicht der Gipfelpunkt des Hedonismus sein. Allerdings werden dafür Erwachsenenpunkte vergeben. Denn einen Vertrag mit einer Bank abzuschließen heißt: aktuelle Bedürfnisse zurückzustellen und für die Zukunft zu planen, perspektivisch, nicht impulsiv zu handeln. Psychologen zufolge ist die Einbeziehung des Zukünftigen in das Jetzt eine genuin menschliche Eigenschaft.

Der Australische Psychologe Thomas Suddendorf formulierte etwa vor vier Jahren die Hypothese der mentalen Zeitreise. Sie besagt, dass nur der Mensch Kraft seines episodischen Gedächtnisses sowohl in die Vergangenheit reisen kann (bereits Erlebtes wiedererlebt), als auch in die Zukunft (noch nicht Erlebtes gedanklich vorwegnimmt). Wobei das eine laut Suddendorf von dem anderen nicht zu trennen ist.

Man kann es auch andersrum formulieren. Die sogenannte Bischof-Köhler-Hypothese, benannt nach drei Psychologen, besagt etwa: Tiere agieren zwar mitunter zukunftsorientiert, aber nur dann, wenn sie durch aktuelle Bedürfnisse dazu angetrieben werden. Letzteres ist einfacher zu überprüfen als die Sache mit der mentalen Zeitreise. Wenn Tiere entgegen ihren momentanen Impulsen Dinge tun, die nur in Bezug auf die Zukunft Sinn haben, dann darf das als Hinweis auf planerische Kompetenz gewertet werden.

Eichelhäher tun es …

Studien

"Mental time travel and the shaping of the human mind", Philosophical Transactions of the Royal Society B (doi: 10.1098/rstb.2008.0301).

"Eurasian jays overcome their current desires to anticipate two distinct future needs and plan for them appropriately", Biology Letters (doi: 10.1098/rsbl.2011.0909).

"Apes Save Tools for Future Use", Science (Bd. 312, S. 1038; doi: 10.1126/science.1125456).

Lucy Cheke von der University of Cambridge hat nun einen entsprechenden Test mit Eichelhähern gemacht. Sie setzte die Vögel auf Diät und setzten ihnen entweder Rosinen oder Erdnüsse vor. Das beeinflusste den Gusto der Vögel bei der nächsten, kurz darauf folgenden Mahzeit: Hatten sie soeben Rosinen bekommen, wurden danach Erdnüsse attraktiver - und umgekehrt.

"Das ist in etwa so, wie wenn sie soeben einen Berg von Sandwiches gegessen haben", sagt Cheke im Gespräch mit science.ORF.at. "Sandwiches sind danach nicht mehr interessant - aber ein Stück Kuchen geht meistens noch."

Die Vögel waren allerdings schlauer, als man meinen sollte. Sie lernten nämlich, dass die Speisenfolge täglich gewechselt wurde. Und passten ihr Sammelverhalten an: "Wenn die Eichelhäher die Möglichkeit hatten, ihre Vorratsbox zu füllen, wählten sie nicht jenes Futter, das sie aktuell bevorzugten, sondern jenes, das sie am nächsten Tag bevorzugen würden - nach der nächsten Mahlzeit", so Cheke.

Sie widerstanden also dem aktuellen Rosinen-Gusto, weil sie wussten, dass es das nächste Mal ohnehin Rosinen in Überfluss geben würde. An Erdnusstagen war es genau umgekehrt. Cheke schließt daraus: Auch Eichelhäher sind mit einer gewissen planenden Vernunft ausgestattet. Womit die zwischen Homo sapiens und dem Rest des Tierreichs errichtete Grenze wieder einmal perforiert wurde.

… und Affen ebenso

Ö1 Sendungshinweis:

Dem Thema widmet sich auch ein Beitrag in Wissen aktuell: 2.11., 13:55 Uhr.

Dass Orang-Utans und Zwergschimpansen zu längerfristigen Planungen imstande sind, haben bereits die beiden Verhaltensforscher Nicholas Mulcahy und Josep Call vor fünf Jahren nachgewiesen. Die Menschenaffen lernten in Versuchen zunächst Werkzeuge zu benutzen, um an Traubensaft zu gelangen. Später wurden sie vor die Wahl gestellt, zwischen verschiedenen Werkzeugen auszuwählen, obwohl weder die Traubensaftmaschine sichtbar noch absehbar war, dass sich der Versuch wiederholen würde.

Das Ergebnis: Die Primaten handelten dennoch mit Bedacht. Sie wählten das Traubensaft-Werkzeug für ihre persönliche Vorratskammer auch dann aus, wenn sie es erst 14 Tage später verwenden konnten.

Dass die Erinnerung an Vergangenes auch mit dem Blick in die Zukunft zusammenhängt, wie es Suddendorf vermutet hat, dürfte jedenfalls stimmen. An Amnesien leidende Menschen vergessen nicht nur, was gestern passiert ist, für sie ist das Morgen gleichermaßen diffus. Ähnliches zeigen Versuche mit kleinen Kindern. Sie beginnen erst dann mit Voraussicht zu handeln, wenn am Erinnerungshorizont Klarsicht herrscht.

Robert Czepel, science.ORF.at

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