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Weinende Frau

Empathie: Zeigt her eure Gene!

Ob Menschen sozial und verständnisvoll sind oder nicht, hängt Forschern zufolge stark von den Genen ab. Wer welche Genvariante im Erbgut trägt, ist demnach selbst für Fremde am Verhalten ablesbar.

Psychologie 15.11.2011

… auf Zuhören eingestellt

Ein Fußgänger spaziert an einem Restaurant vorbei. Darin sieht er ein Pärchen, ins Gespräch vertieft. Er erzählt eine traurige Geschichte, sie hört zu, leidet wortlos mit. Was die beiden sprechen, ist durch das geschlossene Fenster nicht zu hören, doch nach ein paar Sekunden schließt der Passant messerscharf: Die junge Frau trägt mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Gen namens G im Erbgut.

Science fiction? Keineswegs. Genauso einen Versuch hat die kanadische Psychologin Sarina Rodrigues Saturn im Labor durchgeführt. In der nun im Fachblatt "PNAS" erschienenen Studie geht es um den Botenstoff Oxytocin. "Kuschelhormon" wird das Molekül mitunter wegen seiner Wirkungen genannt, als da wären: Es löst bei jungen Müttern die Bildung der Milchproduktion aus, verstärkt die Eltern-Kind-Bindung, fördert das Vertrauen, die Großzügigkeit, das Einfühlungsvermögen und die Stresstoleranz. Kurzum: Es macht sozial umgänglich.

Studien

"Judgmental accuracy from thin slices of behavior: Judgmental accuracy from thin slices of the behavioral stream", Advances in Experimental Social Psychology (Bd. 32, S. 201).

"A thin-slicing study of the oxytocin receptor gene and the evaluation and expression of the prosocial disposition", PNAS online (doi: 10.1073/pnas.1112658108).

Seine Wirkung entfaltet der Botenstoff über spezielle Rezeptoren in Hirn und Körper, und diese Rezeptoren treten in Varianten auf. Studien zufolge sind Menschen mit der Rezeptor-Genkombination GG sozial anders gepolt als solche, die die Varianten AG und AA in ihrem Erbgut tragen.

A-Träger haben beispielsweise ein höheres Risiko für Autismus, Menschen aus der G-Gruppe sind empathischer und empfinden mehr positive Emotionen. Soweit die Statistik. Die Frage ist nur: Übersetzt sich das irgendwie in den Alltag? Kann man solche Dispositionen von außen erkennen - und falls ja, wie schnell?

Verhalten in "dünnen Scheiben"

Sehr schnell, sagt die Stanford-Psychologin Nalini Ambady. Sie hat vor ein paar Jahren umfangreiches Forschungsmaterial über die Verlässlichkeit des sprichwörtlichen "ersten Eindrucks" aufgelistet.

So wie der Histologe aus dünnen Gewebeschnitten aufs Ganze, das Organ, schließen könne, schreibt Ambady, könne das auch der Psychologe im Experiment: "Dünne Scheibchen des Verhaltens" seien als Hinweise auf die Persönlichkeit durchaus geeignet. Ambady zufolge kann man sich dem Charakter wie der Wurst an der Feinkosttheke nähern. Um zu wissen, wie sie schmeckt, genügt es, einmal zu kosten. Es muss nicht immer das komplette Menü sein.

Sarina Saturn bestätigt das nun zumindest in einem Fall. Sie holte 23 Pärchen ins Labor und bat einen der beiden Partner, eine traurige Geschichte aus seinem Leben zu erzählen, während der andere wortlos zuhören musste. Die Zuhörer, Frauen wie Männer, wurden während der berührendsten Augenblicke gefilmt. Diese 20 Sekunden dauernden Sequenzen spielte Saturn dann mehr als 100 weiteren Probanden ohne Ton vor.

Aufgrund dieses Kurzeindrucks mussten sie die gezeigten Personen charakterlich einordnen - das Ergebnis: Von den als besonders empathisch Eingestuften gehörten 60 Prozent zum GG-Typ. Und jene, die auf den Videos wenig empathisch wirkten, gehörten gar zu 90 Prozent zur Kategorie AG oder AA. "Es ist erstaunlich, wie stark die Versuchsergebnisse vom Genotyp abhingen", sagt Saturn.

Gleichwohl sieht Saturn die Probanden nicht am Gängelband ihrer Gene hängen. Wer einen AG- oder AA-Rezeptor in seinem Körper trage, dem müsse es nicht notgedrungen an Einfühlungsvermögen oder sozialer Kompetenz mangeln. "Das sind Leute, die man eventuell aus ihrem Schneckenhaus holen muss. Wenn manche sozialen Eigenschaften genetische Ursachen haben, dann braucht es eben mehr Verständnis und Ermutigung."

Robert Czepel, science.ORF.at

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