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Mathematische Formeln auf stufenförmigen Tafeln

"Physik ist wie Bergsteigen"

Die "Theorie für alles" ist nicht in Sicht, sagt der US-Physiker Frank Wilczek. Und würde sie endlich gefunden, wäre sie dennoch eine "Theorie für weniges". Er spricht im ORF-Interview vom Nutzen und Nachteil des Nobelpreises und erklärt, warum er mathematische Gleichungen schön findet.

Interview 25.11.2011

science.ORF.at: Sie halten heute an der Universität Wien die erste "Boltzmann Lecture". Gibt es zwischen Ludwig Boltzmanns Vermächtnis und Ihrer Forschung Anknüpfungspunkte?

Frank Wilczek: Ja, natürlich. Boltzmanns grundlegende Arbeit ist in gewisser Hinsicht in allem enthalten, was wir heute als Physiker tun. Ich werde in meinem Vortrag über das moderne Verständnis der Materie sprechen. Das ist eines der Geschenke, die Boltzmann uns hinterlassen hat: die Erkenntnis, dass Materie aus Atomen aufgebaut ist.

Wobei Boltzmanns atomistische Überlegungen seinerzeit auf harte Kritik stießen. Ernst Mach hat zur Frage der Existenz der Atome gesagt: "Ham's eins gesehen?" Würde man heute auch noch so argumentieren können?

Nun, heute können wir Atome tatsächlich sehen …

… ich meinte in Bezug auf andere, wie es so schön heißt, "theoretische Entitäten".

Frank Wilczek, Physiker

MIT/Donna Coveney

Zur Person

Frank Wilczek hat unter anderem an der Princeton University und am Institute for Advanced Study als theoretischer Physiker geforscht. Seit 2000 ist er Herman Feshbach-Professor für Physik am MIT. Für seine Beiträge zur Beschreibung der starken Wechselwirkung erhielt er 2004 den Physik-Nobelpreis.

Ja, etwa in Bezug auf die Supersymmetrie: Da befinden wir uns heute auf einer Stufe, die mit der Atomtheorie zu Boltzmanns Zeiten vergleichbar ist. Wir haben indirekte Hinweise, dass es die Supersymmetrie geben könnte. Aber wir wissen es nicht.

Also könnte man fragen: "Ham's die Supersymmetrie gesehen?"

Und die Antwort wäre: "Nein". Man braucht schon eine gute Portion Vorstellungskraft, um die Supersymmetrie in den Daten zu finden, die wir momentan zur Verfügung haben.

Kommen wir nochmals zurück zu ihrem Vortrag. Worüber werden Sie konkret sprechen?

Über die Auffassung, dass die Welt schöne Ideen verkörpert.

Was bedeutet das?

Nach Jahrtausenden harter Arbeit wissen wir Menschen, aus welchen Bausteinen die Materie aufgebaut ist. Die vielen, vielen Kopien dieser Bausteine verhalten sich im Grunde sehr einfach und lassen sich auch mit einfachen Gleichungen beschreiben. Die dahinterstehende mathematische Struktur ist einfach schön.

Was macht eine mathematische Struktur schön?

Schön ist eine Struktur oder eine Gleichung dann, wenn sie Symmetrien besitzt. Nehmen sie als Beispiel einen Kreis: Ich kann ihn drehen und er behält dennoch seine Form. Seine Form hat in gewisser Hinsicht etwas Perfektes an sich. Und diese Eigenschaft unterscheidet den Kreis von den allermeisten geometrischen Objekten. Ähnlich ist das mit grundlegenden Gleichungen: Man kann mit ihnen vieles tun, aber diese Operationen verändern sie nicht. Was die Natur in ihrem Innersten lenkt, ist die Symmetrie.

Die Ansicht, dass die Symmetrie die Welt im Innersten zusammenhält, hat auch etwas Metaphysisches an sich - oder?

Boltzmann Lecture

"Quantum Beauty: Real And Ideal"
Frank Wilczek (MIT Center for Theoretical Physics, Cambridge, USA)
Freitag, 25. November 2011, 17 Uhr
Universität Wien, Fakultät für Physik, Lise-Meitner-Hörsaal
Boltzmanngasse 5 / Strudlhofgasse 4, 1. Stock, 1090 Wien

Ich würde sagen, diese Ansicht ist eine Inspiration. Doch es ist nicht garantiert, dass es so ist. Es gibt nach wie vor Beschreibungen der physikalischen Welt, die nicht symmetrisch und einfach sind. Wir sind mit diesem Programm noch nicht am Ende.

2006 sind sie bei den Alpbacher Technologiegesprächen als Sänger der Mini-Oper "Atom and Eve" aufgetreten. Wie kam es dazu?

Das geht auf die Ig-Nobelpreisverleihung zurück, die jedes Jahr in Harvard stattfindet, wo ich lebe. Ich wurde vor einigen Jahren eingeladen daran teilzunehmen. Ich glaube, meine Frau hatte die Idee. Sie mag wohl meine Stimme (lacht). Mark Abrahams, der Begründer des Ig-Nobelpreises, überredete mich, als Sänger aufzutreten. Die Operette wurde dann auch an anderen Orten aufgeführt - unter anderem in Alpbach.

Vom Ig-Nobelpreis zum richtigen Nobelpreis, den sie 2004 erhalten haben: Hatten Sie erwartet, dass Sie ihn bekommen würden?

Oh ja, ich hatte das lange Zeit erwartet. Es gibt vier Grundkräfte in der Natur: Gravitation, Elektromagnetismus, starke und schwache Kernkraft. Meine Kollegen und ich haben die Gleichungen entwickelt, die zeigen, wie die starke Kernkraft wirkt. Davor war diese Kraft sehr mysteriös. Der theoretische Physiker Freeman Dyson hat damals gesagt: Es wird 100 Jahre dauern, bis jemand die starke Kernkraft versteht. Ein Jahr später hatten wir das Problem gelöst. Es war eine große Sache.

Sie haben diese Entdeckung in sehr jungen Jahren, nämlich als Doktoratsstudent gemacht. Einer Studie zufolge passieren die mit dem Nobelpreis gewürdigten Entdeckungen heute viel später: in der Physik mit durchschnittlich 50 Jahren. Warum werden die Pioniere der Wissenschaft immer älter?

Physik ist eine kumulative Wissenschaft. Je weiter die Zeit voranschreitet, desto mehr gibt es zu lernen - sowohl in der Theorie als auch im experimentellen Fach. Ich bin übrigens kein Gegenbeispiel für diesen Trend: Damals war ich sehr jung, aber mir sind auch danach noch einige Entdeckungen gelungen. Für sie werde ich vermutlich keinen Nobelpreis bekommen, aber meiner Ansicht nach sind sie mindestens so clever wie mein Beitrag zur starken Kernkraft.

Hat der Nobelpreis Ihr Leben verändert?

Auf jeden Fall. Zunächst hatten wir eine großartige Party. Seit der Preisverleihung habe ich den Eindruck, dass mich die Leute nun anders wahrnehmen. Das gilt nicht einmal so sehr für die Fachkollegen, sondern für die Welt außerhalb der Wissenschaft. Der Preis ist wie ein wissenschaftliches Diplom, man findet leichter Gehör.

Das Leben ist einfacher?

Einfacher nicht unbedingt, aber gehaltvoller. Man erhält mehr Einladungen, spricht mit einflussreichen Menschen, solche Dinge. In gewisser Hinsicht der Preis ist auch eine Bürde: Man hat das Gefühl, die Forschergemeinde repräsentieren zu müssen.

Haben Sie noch genug Zeit für Forschung?

Grundsätzlich ja. Schwierig wird es allerdings, wenn ich meine Ideen zu Papier bringen muss. Mein Output im Sinne wissenschaftlicher Publikationen ist seit dem Nobelpries sicher geringer geworden.

Aber nicht in Bezug auf Ihre Ideen?

Das würde ich so sagen. Ich habe allerdings auch meine Arbeitsweise geändert. Normalerweise sieht man sich an, welche erfolgversprechenden Konzepte es in der Fachliteratur gibt - und steigt in dieses Gebiet ein. Das benötigt viel Zeit. Ich muss meine eigenen Ideen entwickeln, etwas ganz anderes tun. Auch deswegen, weil ich mit jungen Leuten nicht mithalten kann, die den ganzen Tag Zeit zum Rechnen haben.

Gibt es in der theoretischen Physik einen Trend zur Vereinheitlichung?

Ja, den gibt es. Viele Gleichungen besitzen eine Familienähnlichkeit. Es ist schwer der Versuchung zu widerstehen, dahinter eine vereinheitlichte Struktur zu vermuten: eine Master-Gleichung.

Die Master-Gleichung wäre dann die "Theorie für alles"?

Ich mag den Begriff nicht, weil viele denken: Würde man die Gleichungen der Theorie lösen, wäre damit das gesamte Verhalten der Materie erklärt. Aber eine solche Theorie würde vermutlich nicht einmal die Chemie beeinflussen, ganz zu schweigen von Geschichte und anderen Dingen, die man mit dem Begriff "alles" verbindet. Die "Theorie für alles" wäre eigentlich eine "Theorie für ganz weniges".

Wie weit sind die Physiker von der Weltformel entfernt?

Sie ist jedenfalls nicht in Griffweite. Ich glaube nicht, dass wir sie in den nächsten 10 oder 20 Jahren finden werden.

Was sind die Hürden auf dem Weg dorthin?

Schwierigkeiten bereiten vor allem die Massen der verschiedenen fundamentalen Teilchen - Elektronen, Leptonen, Quarks usw. Die Massen sind sehr kompliziert verteilt und niemand hat eine überzeugende Idee, warum das so ist.

Ist es für Sie erstrebenswert, dass die Weltformel gefunden wird?

Natürlich. Das ist wie beim Bergsteigen. Wenn man einen Gipfel sieht, dann möchte man auch hinauf.

Interview: Robert Czepel

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